Von außen betrachtet bin ich ein Wrack. Wer nur meine Kolumne kennt, hält mich vielleicht für eine schwerkranke (das bin ich wohl) und bemitleidenswerte Frau. Es kommt immer wieder vor, dass Menschen mir unverblümt ins Gesicht sagen, sie hielten das nicht aus, wenn sie an meiner Stelle wären, würden sie sich umbringen. Ich weiß in solchen Momenten dann nicht so recht, was ich antworten soll.
Ich habe mir in den letzten zehn Jahren viele Gedanken über meine Erkrankungen gemacht. Ich habe Fibromyalgie, eine Diagnose, die eigentlich wenig aussagt. Es bedeutet übersetzt einfach nur »Fasermuskelschmerz« (wie harmlos das klingt für eine so scheußliche Sache). Ich habe Endometriose, eine Erkrankung im Unterleib, die unvorstellbare Schmerzen verursachen kann. Ich habe jeden Tag, rund um die Uhr, Kopfschmerzen. Wenn ich schreibe, wenn ich lese, wenn ich lache. Immer. Ich habe chronische Migräne, das bedeutet, die Kopfschmerzen wechseln sich alle paar Tage mit noch etwas viel Monströserem ab, was ich hier versucht habe zu beschreiben.
Ich bin aber sicher kein Wrack, ich bin ein selbstständiger, aktiver Mensch, der im Rahmen seiner Möglichkeiten ein Leben führt. Und als solcher kommt man nicht umhin, dann und wann auch nach einem Sinn hinter all dem zu fragen.
Vor kurzem habe ich mir den Podcast von Charlotte Roche und ihrem Ehemann Martin (der eine wahnsinnig beruhigende Stimme hat) angehört. Dort berichtet Frau Roche in einer Folge davon, dass sie früher sehr viel Alkohol getrunken hat – und ihr Mann beschreibt, wie schlimm für ihn das Nichtstunkönnen war und wie es ihn mitgenommen hat, wenn sie nach einem Besäufnis verkatert zu Hause lag und zu nichts in der Lage war. Roche hat daraufhin etwas sehr Bemerkenswertes gesagt, nämlich (ich gebe es hier sinngemäß wieder), dass das der Zustand war, in dem sie sie selbst sein konnte, und dass sie ihn genossen hat. Sie hat nicht getrunken, um betrunken zu sein, sie hat getrunken, um einen Kater zu bekommen und unfähig zu sein, etwas zu tun.
Mich hat das sehr nachdenklich gestimmt, ist doch ein Migräneanfall vergleichbar mit einem sehr schlimmen Kater. Und das führte mich (wieder einmal) zu der Frage, die viele Hobbypsychologen und Esoterik-Autoren stellen: Bringt mir meine Krankheit etwas? Ziehe ich einen Gewinn daraus? Möchte ich sie festhalten? Brauche ich die Migräneanfälle, weil mein Körper anders nicht zur Ruhe kommt? Ist es eine perfide Form des Detox und der Entstressung? Eine Art »kleine Auszeit« ganz umsonst, ein nettes Geschenk von mir selbst für mich?
Ich sage nein. Doch es bleibt eine Unsicherheit.
Ich lese jedes neue Buch, das zum Thema Migräne erscheint. Jedes, seit vielen Jahren. Auch zu anderen Gesundheitsthemen habe ich mittlerweile eine ansehnliche Fachbibliothek. Bei den meisten Ärzten, die Bücher über Migräne geschrieben haben, rief ich an, sobald ich das Buch ausgelesen hatte, und vereinbarte einen Termin. Strikt halte ich mich an jede Empfehlung. Doch keiner konnte mir bisher helfen. Warum ist das so? Warum bin ich keine der Erfolgsgeschichten aus diesen Therapiebüchern? Was hält meine Krankheit fest? Selbst mein Neurologe sagte einmal, es wäre unfair wie es mir ginge, denn ich machte alles richtig.
Bin ich einfach nur ein Depp, bin ich zu dumm, gesund zu werden, würde es einem anderen in einer ähnlichen Situation längst besser gehen?
Endometriose wird von manchen Leuten gerne mit sexuellem Missbrauch in Verbindung gebracht, doch ich wurde nie missbraucht und habe keinerlei Probleme mit meiner Sexualität. Unerfüllter Kinderwunsch? Ich wollte nie Kinder, und das sage ich aus vollster Überzeugung (wobei mein Zustand natürlich sein Übriges dazu tut).
Letztens habe ich ein Buch gelesen, das ich am liebsten weggeworfen hätte. Ich möchte die Autorin nicht nennen, aber im Großen und Ganzen ging es um folgendes: JEDER Migränepatient habe Probleme mit seiner Mutter. Migräne entstehe aus der Nichtbeachtung durch die Mutter, und man müsse damit abschließen und den Eltern verzeihen. Selten war ich von einem Buch so enttäuscht. Ich liebe meine Mutter und es macht sie traurig, in was für einer Verfassung ich oft bin. Daher bin ich froh, wenn meine Mutter nicht allzu viel und allzu tagesaktuell mitbekommt, wenn ich wieder nur liegen kann. Ich halte damit eher hinter den Berg, als es ihr auf die Nase zu binden – ich finde es besser, in diesem Zusammenhang »nicht zu sehr beachtet« zu werden.
Interessant finde ich generell das Thema mentales Training. Es gibt tausende Formen davon, einige habe ich erlernt und ausprobiert, da ich schon davon ausgehe, dass die psychische Verfassung einen großen Einfluss auf meine Schmerzen hat. Ich hatte einen Privatlehrer in autogenem Training. Ich war in einem sehr teuren Manager-Seminar über Neuro-Linguistisches Programmieren. Ich habe monatelang jeden Tag geübt, Formeln aufgesagt, ich hatte Mantras und positive Denksätze, habe den Schmerz visualisiert und tausende Male aufgelöst, ausgeatmet, irgendwo hingeschickt, verteilt, in Päckchen gepackt, als Wolken am Himmel vorbeiziehen lassen. Ich wurde hypnotisiert und habe Energieadern geklopft und kann mich mittlerweile effizient innerhalb von zehn Minuten von einem Zustand nackter Panik zu angenehmer Ruhe bringen. Ich beherrsche die Gedanken-Stopp-Technik. Aber für manche Menschen scheint das nicht zu reichen. Ich höre einfach nicht genau genug hin, was der Schmerz mir sagen möchte, denken sie.
Hat es also einen tieferen Sinn, das alles zu ertragen? Bin ich einfach nur ein Depp, bin ich zu dumm, gesund zu werden, würde es einem anderen in einer ähnlichen Situation längst besser gehen? Wenn mir der Schmerz etwas sagen will, was ist es? Lieber Schmerz, mein Freund, ich bin da, den ganzen Tag. Du auch. Wir beide verbringen viel Zeit zu zweit. Also sprich bitte, was möchtest du? Wie oft muss ich dich anschreien, versuchen, mit dir zu verhandeln, mein Spiegelbild anflehen, oder – in ganz düsteren Momenten – auch mal einen Gott, an den ich gar nicht glaube, bis du mir endlich sagst, was du möchtest? Ist es ein Rätsel oder eine Mission? Wächst mir das dritte Auge und drückt mir daher immer die Stirn?
Habe ich in einem früheren Leben einen unverzeihlichen Fehler begangen? Will ich immer »mit dem Kopf durch die Wand«, »beiße ich zu oft die Zähne zusammen« oder »sitzt mir die Angst im Nacken«, wie es die Liebhaber von Sprichwörtern gerne verlauten lassen?
Geht es darum, mich und meine Bedürfnisse auf einer tieferen Ebene selbst zu erforschen und mein Ich bis zum Kern freizulegen?
Ja, ich kann sagen, dass ich mich sehr gut kennengelernt habe in alle den Jahren, denn oft bleibt keinerlei Möglichkeit, sich von sich selbst abzulenken. Man ist nackt in den schlimmsten Momenten, der Schmerz entfernt Schicht um Schicht, und kein noch so schöner Mantel kann einen davor bewahren. Aber ich könnte gut darauf verzichten. Ich würde mich gerne etwas weniger gut kennen, hätte gerne ein paar Winkel weniger entdeckt, wenn ich dafür keine Schmerzen hätte.
Ich beobachte mich sehr genau – kommt mir vielleicht ein Anfall gerade ganz recht? Nein, in all den Jahren hatte ich nun etwa 1500 Migränetage. Ich kann mich an nicht eine Situation erinnern, in der ich dachte »Wie nett, ich hätte sonst zu dieser nervigen Veranstaltung gehen müssen, na dann mach ich es mir jetzt mal für die nächsten Stunden im Bett gemütlich, das passt mir ganz hervorragend«. Auch habe ich noch nie meine Schmerzen als Ausrede verwendet. Es ist ja zu verführerisch, wenn man auf etwas keine Lust hat, einfach zu sagen »Ich habe heute leider wieder Migräne«. Aber irgendetwas in mir glaubt an Karma, und daher habe ich das noch nie getan. Die Migräne nützt mir somit weder als Ausrede, noch um Aufmerksamkeit zu erhalten (gut, zugegeben, nun nach zehn Jahren schreibe ich eine Kolumne darüber – aber glaubt mir, das ist es nicht wert).
Tue ich die ganze Zeit Dinge, die ich eigentlich gar nicht tun will? Mute ich mir zu viel zu? Hat mein Körper vielleicht ein schlaues, außer Kontrolle geratenes Abwehrsystem entwickelt? Hier kann ich zumindest zu einem gewissen Grad zustimmen, aber davon soll ein anderer Text handeln. Dennoch – was ich schon immer am liebsten getan habe und auch noch am liebsten tue, ist lesen. Und damit verbringe ich sehr viel Zeit. Kommt aber ein schwerer Anfall, ist auch lesen nicht mehr möglich. Die Migräne entfernt mich damit von meiner liebsten Beschäftigung, auch hier ist sie mir also wahrlich keine Hilfe.
Ich persönlich glaube also nicht, dass der Schmerz einen tieferen Sinn hat, den ich nur erforschen muss. Ich glaube nicht, dass ich mich erst in eine Art höhere spirituelle Wesenheit entwickeln muss, bis ich diese irdischen Banalitäten wie Schmerz ablegen kann und frei von allen Erkrankungen bin. Ich glaube nicht, dass meine Familie mir ein Trauma vererbt oder meine Kindheit Schuld hat. Ich denke aber, dass in meinem Fall ungute, das ganze System am Laufen haltende Gedankenmuster entstanden sind, die ich hoffentlich aufbrechen kann, um eine weitere Verschlechterung zu verhindern oder einen positiven Prozess anzustoßen.
Ich werde daher weiter den Versuch machen, mit meinen Schmerzen in den Dialog zu gehen, vielleicht bekomme ich eines Tages eine Antwort – bisher bleibt hier nur Schweigen.