Unsere Schulen haben ein Problem. Doch nicht von PISA soll hier die Rede sein oder von Lehrern, die Eros und Ethos verwechseln. Es geht um scheinbar Banaleres: Es zieht, es regnet rein, es blättert und bröckelt. Letztes Jahr wäre eine Lehrerin einer Berliner Mädchenschule fast von einem herabfallenden Stück Fassade erschlagen worden. Und vor ein paar Wochen stürzten in einer Grundschule in Gauting bei Starnberg Teile der Decke auf den Flurboden. Gott sei Dank war Wochenende. Laut der Deutschen Bundesstiftung Umwelt ist ein Großteil unserer Schulen dringend sanierungsbedürftig. Jetzt wird renoviert. Knapp 8,7 Milliarden Euro haben Bund und Länder dafür bereitgestellt. Das hört sich viel an. Nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Urbanistik wären für die Renovierung aller 44 000 Schulen in Deutschland aber 73 Milliarden Euro nötig. Es wird also ein wenig getüncht, das Notwendigste repariert. Fenster und Dächer will man abdichten, damit die notorisch klammen Schulen ihr knappes Budget nicht verheizen. Zu mehr als zu Schönheitsoperationen aber wird das Geld sicher nicht reichen.
Dabei sitzt das Problem, das unsere Schulen haben, tiefer. Sie sind nicht nur marode, sie sind aus der Zeit gefallen. Das merkt zum Beispiel, wer sein Kind heute zur Einschulung bringt (oder alle vier Jahre in einer Schule zum Wählen geht): Sieht alles noch so aus wie damals, als man selbst Schüler war – die gleichen hermetischen Räume, die gleichen endlosen Flure, die gleichen alten Stühle, die gleichen grünen Tafeln. Die Mehrzahl deutscher Schulen ist ein Stein gewordener Anachronismus. Sie sind ästhetisch arm, im Geist der Zweckdienlichkeit errichtet und in etwa so kindgerecht, wie es die Wortschöpfung der »Lehranstalt« nahelegt. Manche sehen aus wie Krankenhäuser, andere wie herrschaftliche Museumstrakte, wieder andere wie modernistische Fabrikbauten. Einladend sind die allerwenigsten.
Als sich letztes Jahr 400 Pädagogen, Architekten, Politiker und Eltern zu einem Konvent in Münster trafen, um über die Schule der Zukunft zu beraten, fällten sie ein vernichtendes Urteil über den Status quo: »Schulräume«, heißt es in der Abschlusserklärung, »sind heute meist Container, in denen Fächer unterrichtet werden, nicht Schüler. In der ästhetischen Verwahrlosung der Orte findet die innere Abwesenheit vieler Schüler und Lehrer ihren Ausdruck.« Der Sozialpsychologe Harald Welzer geht noch weiter: »Den Schülern wird über die Räume, den baulichen Zustand und die Bedingungen die Mitteilung gemacht: Wir legen keinen besonderen Wert auf euch. Dabei sollten Schulen doch ihren Schülern vermitteln, dass man sie gerne dort hat, dass es auf sie ankommt. Dieser Punkt wird fatal unterschätzt.«
Neu ist er indes nicht. Schon vor mehr als 40 Jahren sprach der italienische Pädagoge Loris Malaguzzi von der Schule als dem »dritten Lehrer«, neben den Erwachsenen und den Mitschülern. In der von ihm begründeten »Reggio-Pädagogik«, benannt nach der norditalienischen Stadt Reggio Emilia, sind Kinder keine Gefäße, in die man Wissen füllt, sondern eigenständige, aktive und unabhängige Protagonisten. Die Umgebung, in der sie lernen, ist dabei ein entscheidender Faktor. Doch während man in Reggio Emilia zu jener Zeit über neue kindgerechte Lernorte nachdachte, über Farben, Licht und Mobiliar, über die pädagogische Dimension von Ästhetik und Design also, hielt in Deutschland gerade die neue Sachlichkeit Einzug mit Sichtbeton und Schulen nach dem Baukastenprinzip. Was herauskommt, wenn Bürokraten bauen, konnte man schon bei den trostlosen Wohnsilos der Neuen Heimat sehen. Sie sind zu Recht auf dem Müllhaufen der Architekturgeschichte gelandet.
Es ist ein altes Verständnis von Bildung, das den Schulen wie eine DNA eingeschrieben ist: für jedes Fach ein Zimmer. In den Zimmern hören viele Kinder einem Lehrer zu. Es ist ein starres System, das den Geist der industriellen Revolution widerspiegelt. Es beruht auf Effizienz. Knapp zwei Quadratmeter werden dem deutschen Schüler von den Behörden an Grundfläche zugestanden. Will ein Schulträger großzügiger bauen, muss er die Mehrkosten selber tragen. Kein Wunder, dass sich Klassenzimmer wie Pferche anfühlen – sie werden nach der gleichen Logik geplant wie Legehennenbatterien.
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Aber nicht nur die Hülle stimmt nicht, auch das, was drinnen steht, ist nicht zeitgemäß. Das Mobiliar unserer Schulen stammt zum größten Teil aus einer Zeit, als Kohl noch Kanzler war. Wer in die Abstellkammern der Schulen schaut, in die Möbellazarette, findet noch ältere Stücke, die im Einsatz sind. Und warum auch nicht – ein Stuhl ist ein Stuhl, oder? In der öffentlichen Meinung ist der Schulstuhl ein Gebrauchsgegenstand, dem nie viel Bedeutung beigemessen wurde. Ein Versäumnis, wie Designer, Hirnforscher und Ergonomen seit Jahrzehnten predigen.
Der Sport- und Bewegungswissenschaftler Dieter Breithecker sieht in den starren Stühlen, die unsere Klassenzimmer beherrschen, nicht nur den Ursprung von Haltungsschäden und Rückenschmerzen, sondern einen Hemmschuh für die geistige Entwicklung: »Kinder kippeln gern, wenn sie sitzen«, sagt Breithecker. »Das galt lang als unartig. Heute weiß man, dass stilles, gerades Sitzen unnatürlich ist. Das Kippeln und Zappeln dient dem geistigen Überleben, denn im Kindes-alter finden wichtige Reifungs- und Entwicklungsprozesse statt. Dabei ist das Gehirn ständig auf Impulse angewiesen, damit sich Nervenzellen verschalten können. Diese Impulse bekommen Kinder über körperliche Aktivität. Stühle, die nicht einladen, sich zu bewegen, bremsen also Entwicklung aus.« Seltsam, wie oft man sich über schwere Schulranzen aufregt, der Stuhl aber irgendwie egal ist. Ihren Ranzen tragen Kinder im Schnitt 15 Minuten am Tag, sitzen müssen sie bis zu acht Stunden, viele Jahre lang.
Es war ein langer Weg von den ersten Schulbänken zu der Erkenntnis, dass der Schulstuhl eine gestalterische Herausforderung darstellt. Große Designer wie Charles Eames, Arne Jacobsen, Egon Eiermann und Jean Prouvé haben sich im letzten Jahrhundert an ihm versucht, haben Klassiker geschaffen, die heute nicht mehr in Klassenzimmern, sondern in Museen stehen. Doch erst in den Neunzigerjahren entwarf Verner Panton mit dem PantoMove und dem PantoSwing zwei Modelle, die ergonomisch auf das spezielle Sitzverhalten von Kindern zugeschnitten sind. Unnötig zu sagen, dass solche Stühle vorerst fast nur in Privatschulen eingesetzt werden, weil sie teurer sind.
Nächstes Jahr wird der deutsche Traditionshersteller Flötotto einen neuen Schulstuhl vorstellen, den der Designer Konstantin Grcic entworfen hat. Er ist schlicht, leicht und ergonomisch vorbildlich: Er gibt nach hinten nach, wenn man zuhören will, und kippt leicht nach vorne, wenn man schreibt. An ihm finden sich aber auch Ideen, die so offensichtlich sind, dass in 100 Jahren keiner daraufkam. Seine kreisrunde Sitzschale animiert zum 360-Grad-Sitzen. Die Rückenlehne ist oben an der Kante abgerundet – man kann bequem seinen Arm oder beide darauf ablegen. Zum Tragen und Hochstellen gibt es einen Griff hinten an der Rückenlehne, an den man aber auch einen Ranzen hängen kann. Ein Stuhl wird immer ein Stuhl bleiben. Man sollte keine Wunder von ihm erwarten. Doch etwas mehr Sitzkomfort und Bewegungsfreiheit sollten wir unseren Kindern ruhig zugestehen, die Schule ist hart genug.
Die Misere unserer Schulen lässt sich nicht von heute auf morgen beheben. Es wird ein Ringen um Minimalforderungen bleiben, denn den besten Absichten und Ideen steht eine Bausubstanz gegenüber, an der man nicht vorbeikommt. Zudem sind die Baurichtlinien veraltet und das Geld notorisch knapp. Doch das ist es nicht allein. Es mangelt vor allem an Einsicht. Schulen sind zentral für die Kultur einer Gesellschaft, für das Bild, das sie von sich selber hat und was sie von sich selber und ihren nächsten Generationen erwartet. Warum also sind sie uns so egal? Warum retten wir lieber Banken? »Zukunft ist einfach keine Kategorie in unserer Gesellschaft«, sagt Harald Welzer, der Sozialpsychologe. »Es gibt keinen Gesellschaftsentwurf, der uns sagt, wie wir morgen leben sollen. Das kann man auch am Umgang mit unseren Schulen ablesen.«
Wie also könnte sie aussehen, die Schule der Zukunft? Sie muss vor allem offen sein für Veränderungen, sagt der amerikanische Designer Bruce Mau: »Der Technikwandel schreitet immer schneller voran. Schon in zehn Jahren wird unser Verständnis von Schule radikal anders sein als heute. Das bedeutet, dass alles Statische gebaut werden muss mit der Möglichkeit zur Veränderung, sonst verbaut man sich Möglichkeiten.« Mehr Platz wäre ein guter Anfang; eine offene, variable Architektur, die zu fächerübergreifender Gruppenarbeit einlädt, mit Räumen, die die Sinne ansprechen. Architekten wie Peter Hübner oder Susanne Hofmann von den Baupiloten lassen ihre Schulen von Kindern mitgestalten. So entstehen Orte der Identifikation, die Lust aufs Lernen machen. Schöne Schulen sind kein Selbstzweck und gute Stühle kein Luxus. Sie senden ein Zeichen an unsere Kinder, das viel entscheidender ist als das nächste PISA-Ranking: Ihr seid wichtig. Auf euch kommt es an.
Thomas Bärnthaler empfiehlt als Anschauungsunterricht für den unterschätzten Zusammenhang zwischen Design und Pädagogik das Schulmöbelmuseum der Firma VS in Tauberbischofsheim.
Fotos: Camillo Büchelmeier