Der Start: Drei, manchmal vier oder fünf Minuten vor dem Startschuss beginnt für mich das Rennen: Ich komme ins Stadion, gehe an meinen Startblock, starte mich ein (*1), dann laufe ich ganz locker ein paar Meter nach vorn. Ich baue Anspannung auf, fokussiere mich auf das, was gleich passiert. Und schaue was die Konkurrenz macht. Man will nicht der Erste sein, der im Startblock hockt, so hat man eine gewisse Kontrolle über das, was gleich passiert.. Gehe ich als Letzter, kann ich steuern, wann der Starter sagt: »fertig«.
Natürlich könnte ich verwarnt werden, wenn ich zu lang bräuchte, aber ich habe schon so viele Wettkämpfe bestritten, dass ich weiß, wieviel Zeit ich habe. Ich überbrücke die Sekunden, indem ich noch ein, zwei Sprünge mache, so weiß der Körper: Gleich geht's los. Dann stelle ich den linken Fuß in den vorderen Startblock. Früher war ich Weitspringer und bin mit dem linken Fuß abgesprungen, seither stelle ich diesen Fuß nach vorn, löse ihn aber nochmal kurz, um ihn locker zu halten
Zu den den Mahlzeiten zuvor habe ich etwas Vernünftiges gegessen, aber ich habe keine spezielle Ernährung für Wettkämpfe. Es kommt ja immer auf die Umstände an, was ein Hotel beispielsweise zum Frühstück anbietet. Da ist es gut, wenn man relativ flexibel ist. Ob ich viel geschlafen habe, ist nicht entscheidend. Manchmal schlafe ich kaum, doch mein Körper steht so unter Anspannung, dass er die Müdigkeit nicht merkt.
Ich schaue nach unten. Der Startschuss fällt.
Bis Meter 20, die Startphase: Die ersten Meter laufen bei mir automatisch ab, da muss ich mir keine Gedanken machen, weil es sehr selten vorkommt, dass ich auf den ersten Metern eine schlechte Phase habe. Bis Meter zehn habe ich etwa sieben Schritte gemacht und dafür etwa 1,85 bis 1,90 Sekunden gebraucht. Am Anfang ist man langsamer als bei siebzig, achtzig Metern, da brauche ich für zehn Meter nur ungefähr 85 Hundertstel. Über meine Atmung mache ich mir auch keine Gedanken. Ich bin sicher, dass ich atme, aber ich weiß es nicht.
Meter 20 bis 40, die Beschleunigungsphase: Ab Meter 20 etwa realisiere ich, dass ich renne, das Denken beginnt; kommt man hier nicht auf die nötige Geschwindigkeit, kann man das im Rest des Rennens nicht mehr aufholen und verliert entscheidende Hundertstelsekunden. Ich konzentriere mich darauf lange Schritte zu machen, lange Schritte bringen mehr Geschwindigkeit als viele Schritte. Wichtig ist, dass ich einen ordentlichen Kniehub (* 2) habe, dass ich mich ganz aufrichte und der Körperschwerpunkt nicht zu weit hinten liegt . Ich muss auch aufpassen nicht anzufersen (*3). Denn wenn man bei 30 oder 40 Metern einmal anferst, kommt man auch nicht mehr raus aus der Position.
Im Idealfall hat man die Konkurrenten gar nicht im Blick, weil sie hinter einem liegen. Erwischt man aber einen schlechten Start, nimmt man sie sofort wahr. Umso wichtiger ist es,während des Laufs in seinem eigenen Tunnel zu sein, nichts um sich rum wahr zu nehmen - leichter gesagt als getan.
Meter 40 bis 80, das Fliegende Laufen: Ab Meter 35 muss man alles mitnehmen, was man an Geschwindigkeit bis dahin aufgebaut hat, denn ab etwa Metern 40 erreicht man die Höchstgeschwindigkeit. Stimmt die vorhergehende Beschleunigungsphase, dann stimmen auch die nächsten 40 Meter. Es wäre am besten, jetzt das Denken wieder auszuschalten und die ideale Laufposition, die ich hoffentlich zuvor gefunden habe, auszubauen, locker zu laufen, mit den Schultern leicht über dem Körperschwerpunkt. Wenn ich aber einen Stolperer hatte, die Schritte zu kurz gesetzt habe oder der Körperschwerpunkt zu tief liegt, dann kostet das Kraft und ich bin zu langsam. Dann muss ich doch denken. Das passiert, wenn man nicht ganz aufmerksam ist. Grundsätzlich aber ist das die beste Phase des Laufs, um mit wenig Aufwand viel Geschwindigkeit zu erzielen.
Natürlich trainiere ich jede einzelne Phase eines 100-Meter-Laufs den ganzen Herbst und Winter in der Halle, sechs mal die Woche, Krafttraining, Tempoläufe, Spünge, Training bestimmter Muskelgruppen. Im Winter wird die Leistung gemacht, heißt es. Ich trainiere von Montag bis Freitag jeweils zwei Stunden am Vormittag und am Nachmittag, am Samstag nur am Vormittag. Im Sommer, in der Wettkampfzeit, trainiere ich im Freien und weniger. Ist am Samstag Wettkampf, ziehe ich am Mittwoch zum letzten Mal die Spikes (*4) an, Donnerstag mache ich eine Krafteinheit, am Freitag ein bisschen Gymnastik, ein bisschen einlaufen. Der Körper muss sich bis Samstag erholen.
Ab Meter 80 - Übersäuerungsphase und Zieleinlauf: Für 100 -Meter brauche ich 42 bis 43 Schritte. Kurz vor dem Ziel lässt bei einem 100-Meter-Läufer die Geschwindigkeit nach, Der Körper kann nur für etwa acht Sekunden Höchstleistung bringen, dann übersäuern die Muskeln, andere Reserven müssen angezapft werden. Das heißt, man muss versuchen, die letzten 20 Meter trotz Müdigkeit immer noch seine Technik zu laufen - Knie hoch kriegen, nicht anfersen, lange Schritte machen. Das übt man natürlich auch im Training. Dann, bei der Zieleinnahme (*5) daran denken, die Schultern nach vorn zu drehen. Denn ist ein Zielfoto notwendig, um zu sehen, wer gewonnen hat, zählt oftmals nicht der Fuß über der Zielgeraden, der kann bei einer Tausendstelsekunde gleich auf sein, dann zählt die Schulter, die als erstes im Ziel war, nicht der Kopf. So war das bei Lucas (*6) und mir bei den Deutschen Meisterschaften vergangenen Sommer in Ulm. Beim Endlauf liefen wir beide 10,01, ich war nur eine Tausendstelsekunde schneller als er, ich wurde Deutscher Meister. Leider wurde diese Zeit nicht gewertet, weil der Rückenwind zu stark war. Also zählte mein Halbfinallauf als neuer Deutscher Rekord mit 10,05 Sekunden.
Rennläuferdeutsch
*1 einstarten = der Läufer geht zum Startblock und stellt ihn für sich passend ein
*2 Kniehub = so zu laufen, dass die Knie bei jedem Schritt einerseits ausreichend hoch, andererseits nicht zu hoch sind
*3 anfersen = aufpassen, dass die Fersen nicht den Hintern berühren
*4 Spikes anziehen = eine ganze Trainingseinheit absolvieren, nicht nur joggen oder aufwärmen
*5 Zieleinnahme = aufs Ziel zuzulaufen
*6 Lucas = Lucas Jakubczyk aus Berlin, Zweiter bei den Deutschen Meisterschaften hinter Julian Reus
Julian Reus, 27, in Hanau geboren, ging bereits mit elf Jahren ohne seine Eltern auf ein Sportgymnasium in Erfurt, weil er dort bessere Trainingsbedingungen vorfand. Bis 15 trainierte er Leichtathletik-Mehrkampf, konzentrierte sich dann auf die 100 Meter. Er wurde Junioren-Europameister über 100 Meter und Europameister mit der 4x 100-Meter-Staffel. Bei den deutschen Meisterschaften 2014 in Ulm unterbot er den seit 1985 bestehenden Deutschen Rekord von Frank Emmelmann aus Magdeburg um eine Hundertstelsekunde auf 10,05. Er startet für Wattenscheid
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