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Auch in Zeiten der Krise gibt es sichere Anlagen: brasilianische Fußballspieler. Südamerikanische Industrielle und europäische Manager zahlen Millionen für die begehrte Ware - was die Fußballer selber wollen, zählt oft nur am Rande. Die Geschichte des HSV-Spielers Thiago Neves.

Thiago Neves balanciert seine Baggypants knapp unter der Hüfte und trägt übergroße Sneakers, die seinen Schritt ein wenig an Charlie Chaplin erinnern lassen. Die brillantbesetzten Ohrringe funkeln unter den Spotlights, die im Geschäftstrakt des HSV-Stadions die gute alte Zeit beleuchten. Neves schlendert an den Heroen des Clubs vorbei und würdigt sie keines Blickes. Lebensgroß hängen die Bilder von Uwe Seeler und seinen Gefährten an den Wänden, schwarz-weiße Zeugnisse einer Epoche, in der nur ein einziger Spieler nicht aus Hamburg kam: Jürgen Kurbjuhn. Der kam aus Buxtehude, von der anderen Elbseite aus Niedersachsen.

Thiago Neves steht für eine neue Zeit beim Hamburger Club, eine Zeit, in der der Fußballverein zu den Großen in der Welt aufschließen will. Mit ihm im Zentrum. Einem brasilianischen Nationalspieler! Nur: So richtig angekommen ist der 23-Jährige auch nach vier Monaten noch immer nicht in der Hansestadt. Das liegt vielleicht auch an den anhaltenden Sprachschwierigkeiten. Deshalb wird er von einem Dolmetscher begleitet, der ihn umsorgt wie ein elternloses Kind auf einem Flug in eine ferne Stadt. Der Übersetzer, ein Soziologie-Student, steuert Thiago Neves zu einer schwarzen Ledercouch. Der Spieler macht einen fröhlichen Eindruck. Das kann nicht von seinen sportlichen Erfolgen herrühren. Er wurde von seinem Trainer Martin Jol in der Vorrunde der Bundesligasaison kaum eingesetzt. Der Holländer wollte ihn zwar unbedingt haben, aber so dringend nun auch wieder nicht, dass er ihn jetzt auch immer spielen lässt. Neves sagt: »Ich hatte unheimliches Glück. Ich komme aus einer sehr armen Familie. Meine Mutter musste für uns arbeiten, damit wir überhaupt etwas zu essen hatten.« Neves macht eine lange Pause, in der klar wird, dass es in seiner Jugend nicht um Playstations ging, sondern ums Überleben in einer Favela. Der Vater hatte sich von der Familie früh getrennt. »Als ich klein war, wollte ich nur auf den Platz. Ich ging morgens aus dem Haus, und meine Mutter dachte, ich gehe zur Schule. Ich bin aber immer nur Fußball spielen gegangen.«

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Der Vater eines Freundes war der Clubmanager eines größeren Vereins. Als er merkte, dass Neves außergewöhnliches Talent hat, gab er ihm und seiner Familie etwas Geld, holte ihn mit dem Auto zum Training ab und nahm ihn unter Vertrag. »Andere waren mindestens genauso gut, vielleicht sogar besser, aber ich bin der Einzige, der es geschafft hat, Profi zu werden.« In Hamburg kennt er mittlerweile zumindest das Portugiesen-Viertel am Hafen und einen Friseursalon, der ihm günstig blonde Strähnchen zauberte. Sehr zum Ärger der Clubführung. Der solle doch erst ein paar Mal gut spielen, dann könne er sich um sein Styling kümmern, sagt einer seiner Vorgesetzten und stöhnt richtig dabei. So als ob eine dunkle Vorahnung des Misserfolges in der Luft liege. Und das käme teuer.

Denn Neves ist eine menschliche Aktie. Einer von mehr als 5000 brasilianischen Spielern, die mittlerweile im Ausland Profis sind. Spielt er gut, steigt seine Aktie, spielt er schlecht, sinkt sie. Spielt er gar nicht, droht Totalverlust. Neves weiß das. Er sagt: »Ich habe mich daran gewöhnt, eine Handelsware zu sein.« Vor dem 4. August gehörte die Aktie Neves zu 66 Prozent dem brasilianischen Supermarktbesitzer Delcir Sonda. Der hatte die Mehrheit der Anteile an den »ökonomischen Rechten«, wie man heutzutage sagt, von den Vorbesitzern gekauft, die die Karriere von Neves vorfinanzierten.

Das Geschäft mit den Verkaufsrechten an den Spielern ist in Brasilien zu einem millionenschweren Wirtschaftszweig geworden, und Delcir Sonda hat jetzt nicht nur Rumpsteaks, Tütensuppen und Tiefkühlgemüse im Angebot: Seit ein paar Jahren vertreibt der Multimillionär aus São Paulo neben Rinderhälften auch kostbare Zweibeiner. Zehn Millionen US-Dollar investiert die Sportabteilung der Supermarktkette jedes Jahr in junge Talente, siebzig junge Spieler hat sie schon unter Vertrag. Aber die Konkurrenz schläft nicht. Auf der Internetseite des legendären Fußball-Paten Juan Figer können Konkurrenzangebote eingesehen werden. Man kann sich auch gleich verlinken lassen zu transfermarkt.de. Dort sind die Paketpreise ganzer Mannschaften abgedruckt.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Laut offizieller Firmenpolitik hat Rogon das Mindestalter für Brasilianer auf 14 Jahre gesenkt.)

In Europa ist man erschreckt über die Kaltschnäuzigkeit, mit der vor allem brasilianische Jugendliche auf dem Markt gehandelt werden. Einige nennen es modernen Menschenhandel, andere Sklavenhandel. Einer der Spielervermittler, die mal mit der Aktie Neves zu tun hatten, heißt Christian Rapp. Er ist der Südamerika-Verantwortliche von Rogon, einer Management-Firma mit Sitz in Ludwigshafen und Filialen in Köln, Prag, Rio de Janeiro, Salvador de Bahia und Porto Alegre. Rapp reist fast täglich zwischen den unzähligen brasilianischen Provinzen hin und her, schaut sich Spieler an, redet mit Verwandten, sichtet Videos. Immer auf der Jagd nach neuen Fußballern, die Entwicklungspotenzial haben. Ist er ein Menschenhändler? »Wenn man im Berufsbild ›Spielervermittler‹ aktiv ist, darf man nicht sensibel sein. Wir werden natürlich nicht gerade angesehen wie Krankenschwestern«, sagt Rapp. Aber er zwinge niemanden, bei ihm zu unterschreiben.

Verträge, sagt er, dürfe man als Rogon-Mitarbeiter erst machen, wenn die Spieler mindestens 16 Jahre alt sind. »Das können Sie in Südamerika aber vergessen. Wenn wir hier anfangen, wenn die 16 sind, dann sind wir schon der dritte Manager.« Laut offizieller Firmenpolitik hat Rogon das Mindestalter für Brasilianer daher auf 14 Jahre gesenkt. Rapp sagt aber auch: »Da hier die ganze Welt zum Einkaufen kommt, muss man eigentlich noch viel früher beginnen.« Spätestens wenn ein Talent zwölf Jahre alt ist, sollte man es unter Vertrag genommen haben, sonst stellt man sich in der Wertschöpfungskette hinten an. »Sportlich gesehen ist das vor der Pubertät zwar Blödsinn«, sagt Rapp.

»Denn laut Statistik haben wir vor der Pubertät eine spätere Erfolgswahrscheinlichkeit von vielleicht dreißig bis vierzig Prozent. Erst nach der Pubertät kann man mit größerer Sicherheit sagen, ob der Spieler den Sprung in den Profibereich schafft. Der Markt ist aber so wettbewerbsintensiv, dass auf einen Fußballer mindestens drei bis vier Manager kommen.« Und so werden Spieler im Kindesalter, wie damals Neves, genauestens vermessen und gewogen. Auf Wachstumstabellen wird kontrolliert, ob sie die körperlichen Voraussetzungen für den Sprung in den Profibereich mitbringen. Denn heute kauft kaum einer mehr schmächtige Spieler. Sie gelten in Europa als schwierige Ware. Wie damals Sklaven mit schlechten Zähnen. Die wollte auch keiner haben.

Um die Talente vor allen anderen unter Vertrag zu nehmen, sind die Scouts der Unternehmen in jedem Dorf des Landes unterwegs und sichten unzählige Jugendspiele. Bis in den letzten Winkel des Regenwaldes schicken die Spieleragenten ihre Späher, bieten den Vätern ein Auto an, der Mutter fünfzig Euro im Monat und dem Talent einen Platz in einem der beliebten Fußballinternate. Dort werden die jungen Fußballer geschult und auf den Markt vorbereitet. Später bringt sie Rapp oder einer seiner Konkurrenten zunächst bei einem brasilianischen Ligaverein unter. »Den Spieler in die Vitrine stellen«: So nennen die Vermittler den ersten Vertrag mit einem größeren Club in Brasilien.

Und so stand der 1,82 Meter große Thiago Neves aus den Favelas von Curitiba, nachdem er eine Saison lang in der zweiten japanischen Liga gespielt hatte, in der Vitrine von Fluminense Rio de Janeiro. Er wurde in Brasilien 2007 zum Spieler des Jahres gekürt, machte seine ersten Spiele in der Nationalmannschaft und wurde damit zum Spitzenprodukt in der Angebotspalette von Delcir Sonda. Jetzt musste er verkauft werden, bevor die Ware verdirbt, sich Blessuren zuzieht oder zu alt wird. Und so schickte Sonda zwei Abordnungen nach Europa. Die eine nach Madrid, die andere nach London. Von dort aus unternahmen die Unterhändler Ausflüge in Europas Städte mit großen Stadien. Eines davon steht in Hamburg.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Bei Neves war klar: Wenn er keine Spielberechtigung in England erhält, in Madrid kein Abschluss möglich ist, dann kommt er eben an die Elbe.)

Clubpräsident Bernd Hoffmann, ein scharfsinniger Manager-Typ, kann sich noch genau daran erinnern, wie die Abordnung in seinen Geschäftsräumen auftauchte. »Die kamen mit Musterkoffern und DVDs«, sagt Hoffmann. »Aber eigentlich braucht man die gar nicht mehr. Jeder noch so einbeinige Spieler hat mittlerweile sein Video auf YouTube.« Die ersten Eindrücke würden sich mittlerweile alle Bundesliga-Manager auf YouTube holen, sagt Hoffmann. Dort kann man die schönsten Tore und Aktionen des Spielers genießen, unterlegt mit rockiger Musik. Wer glaubt, dass Fans diese Videos zusammenschneiden, täuscht sich. »Das Geschäft ist derartig professionalisiert, da wird nichts dem Zufall überlassen.« 157000 Abrufe hat etwa das Video mit dem Titel Thiago Neves Show innerhalb der letzten elf Monate gesammelt. Einer davon kam aus Hoffmanns Büro.

Nach dem Treffen mit den brasilianischen Unterhändlern, die, so der Clubchef, »im Besitz des Spielerpasses waren«, war klar, dass Neves zu haben sei. Aber vorher musste noch der Hamburger Starspieler van der Vaart verkauft werden. »Als kurz vor Beginn der Bundesliga-Saison sicher war, dass er nach Madrid wechselt, konnten wir tätig werden.«

Günstigerweise musste man dafür nicht mal mehr nach Brasilien fliegen, früher eine unerlässliche Mühsal, der sich der jeweilige Sportchef noch unterzog, um dann an einem Verhandlungstisch mit etlichen Leuten, die alle irgendwelche Rechte an dem Spieler besaßen, Platz zu nehmen. Mitunter saßen sogar Friseure am Tisch, die über Jahre ihre Dienste umsonst angeboten hatten und nun bezahlt werden sollten für den Look, der ja auch etwas zum Deal beigetragen hätte. Man muss wissen, Brasilianer machen viel mit ihren Haaren. Manchmal mehr als mit ihren Beinen. Und das erschreckt die Europäer sehr.

Bei Neves also war klar: Wenn er keine Spielberechtigung in England erhält, in Madrid kein Abschluss möglich ist, dann kommt er eben an die Elbe. Der Supermarkt kaufte schnell noch die restlichen 33 Prozent von Neves dazu und verkaufte ihn am gleichen Tag für kolportierte 9,2 Millionen Euro zu 100 Prozent an den HSV weiter. Der muss aber bei einem Weiterverkauf von Neves zwanzig Prozent der Transfererlöse wieder an den Spielervermittler Sonda abführen.

»Ein vertragliches Gesamtkunstwerk«, sagt Hoffmann nicht ohne Stolz. Man darf annehmen, dass Sonda hinter den Namen Neves ein Häkchen gemacht hat. Mission erfüllt. Genau wie hinter den Namen Breno: jener brave, kaum zum Einsatz kommende Verteidiger, den Sonda und andere Vermittler vor einem Jahr an Bayern München verkauften, für unglaubliche 19 Millionen Dollar. Laut brasilianischem Fußball-Verband hatte Sonda aber für dreißig Prozent der Rechte nur 250000 Dollar bezahlt. Macht für ihn einen Gewinn von 5,45 Millionen Dollar.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: "Mein Rat an junge Spieler ist: Niemals aufgeben und täglich Gott danken. Dann klappt schon alles.")

Fragt man Vereinsbosse aus Europa nach Menschen wie Figer oder Sonda, dreht sich ihnen der Magen um. »Dass Menschen, die dir einen Spieler anbieten und dich über den Tisch ziehen, für diese Leistung noch eine Riesen-Provision kassieren, ist einfach pervers«, sagt HSV-Boss Hoffmann und weiß, das seine Klage zu nichts führen wird. »So ist das System.« Er will in Zukunft die Finanzierungsmodelle der Brasilianer sogar kopieren und in der Bundesliga einführen. Investoren sollen sich an einem Fonds beteiligen können, der Spieler kauft und durch die Verkaufserlöse Gewinne macht. Das hat ihm schon viel Spott bei den Fans eingebracht. Die Foren im Internet laufen heiß bei dem Thema. Einige wollen Ohrläppchen der Spieler haben, andere nur die Frisur kaufen. Hoffmann denkt auch darüber nach, eine Repräsentanz in Brasilien aufzumachen, um in Zukunft eben nicht mehr neun Millionen an eine Supermarktkette überweisen zu müssen, sondern vielleicht nur zwei Millionen an einen Provinzverein, der ein Talent im Angebot hat.

Thiago Neves kann das egal sein. Er sagt, er rechnet damit, zehn Jahre in Europa zu bleiben. Er sei im Übrigen immer Herr der Lage, und ohne seine Unterschrift laufe sowieso nichts. Er fühle sich auch nicht als Sklave. »Als ich damals nach Japan verkauft wurde, da haben mir meine Berater gesagt, ich solle das machen, das sei gut für mich. Vielleicht war die Zeit aber nicht gut für mich.« Es sei jedoch noch mal gut ausgegangen. Vielleicht auch, weil er immer sehr viel bete. »Mein Rat an junge Spieler ist: Niemals aufgeben und täglich Gott danken. Dann klappt schon alles.« Auf die Frage, was denn die größte Umstellung in Europa sei, sagt er: »Der Rasen ist immer nass.« Und man müsse ganz schön oft hochspringen: »Die Europäer lieben Kopfbälle.«

Seinen Traum vom Fußball lebt Thiago Neves derzeit aber nicht auf dem Rasen, den lebt er in seiner neuen Wohnung, auf der Sony Playstation. Dort ist die Welt perfekt. Es gibt keine Spielervermittler, die Millionen für einen 19-Jährigen verlangen, und keine Trainer, die einen über Monate hinweg nicht aufstellen, obwohl man gut in Form ist. Und man wird nicht genau in dem Moment weiterverkauft, wenn man endlich die Sprache gelernt hat. In seiner Computerspiel-Mannschaft spielt Neves für Manchester United. Ganz viele Freunde aus seiner Jugend auf den staubigen Plätzen von Curitiba hat er dort im Team.

»Wir spielen flach und schnell und lachen viel dabei.« Und das vor 78000 Zuschauern im ausverkauften Stadion. In der perfekten Welt der Playstation trägt Neves die Nummer zehn und ist Torschützenkönig der englischen Liga. In der realen Welt sitzt er oft auf einer Bank und schaut den anderen beim Siegen zu. Dann denkt er über seinen Aktienwert nach. Wer nicht spielt, weiß er, ist ein Totalverlust.

Thiago Neves gehört zu den mehr als 5000 brasilianischen Spielern, die mittlerweile im Ausland Profis sind. Spielt er gut, steigt seine Aktie, spielt er schlecht, sinkt sie, spielt er gar nicht, droht Totalverlust. Neves weiß das. Er sagt: »Ich habe mich daran gewöhnt, eine Handelsware zu sein.«

Fotos: Axel Martens