»Wir hatten keine Lust mehr, Verstärkertürme und Drumsets rumzuschleppen«

Seth Avett von den Avett Brothers im Interview über den Reiz der akustischen Musik, einen Besuch bei Folk-Legende Doc Watson, die Arbeitsweise des Produzenten Rick Rubin und den größten Streit mit seinem Bruder Scott.

Bob Crawford, Scott Avett und Seth Avett sind zusammen die Avett Brothers

Foto: Universal

Seth Avett, bevor Sie und Ihr Bruder Anfang der Nullerjahre die Avett Brothers gründeten, haben Sie beide in Indierock-Bands gespielt. Wieso haben Sie den Indierock an den Nagel gehängt und sind zur Roots-Musik gewechselt?
Scott und ich sind auf dem Land aufgewachsen und ich denke, dagegen wollten wir rebellieren. Wir stammen aus North Carolina – und wollten Musik machen, die sich nach New York oder Kalifornien anhört. Als Scott 18 war und ich 14, konnten wir die Tatsache aber nicht mehr ignorieren, dass uns die Roots-Musik auf gewisse Weise im Blut liegt und Teil unserer Stimme ist. Wir erkannten, wie viel Spaß es uns macht, uns mit akustischen Gitarren hinzusetzen und zusammen zu singen. Hinzu kam, dass wir beide keine Lust mehr hatten, Verstärkertürme und Drumsets rumzuschleppen.

In North Carolina ist die Country- und Bluegrass-Kultur weiterhin sehr lebendig, oder?
Ja, auf jeden Fall. Bluegrass ist dort Teil der musikalischen Tradition – und des Alltags. Die Schule, auf der ich war, veranstaltet zum Beispiel jedes Jahr auf ihrem Sportplatz eine Fiddlers Convention mit einem kleinen Wettbewerb für junge Musiker. Das ist nicht hip oder cool, sondern ganz normal.

Ich war vor einigen Jahren beim MerleFest...
Wirklich? Wow!

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... und selbst ganz überrascht, wie normal es in North Carolina und Umgebung anscheinend ist, Bluegrass-Mandoline oder ein ähnliches Instrument zu lernen. Das MerleFest, das muss man vielleicht dazu sagen, ist ein Festival für akustische Roots-Musik, ins Leben gerufen von Folk-Legende Doc Watson.
Das MerleFest ist der beste Beweis dafür, wie stark die traditionelle Musik bei uns verwurzelt ist. Ich war mit 13 Jahren übrigens mal bei Doc Watson zu Hause, das war tatsächlich ein Wendepunkt in meinem Leben; bald darauf begannen Scott und ich, uns eingehender mit akustischer Musik zu beschäftigen. Seitdem waren wir jedes Jahr beim MerleFest, dieses Jahr treten wir selbst dort auf.

»Ich habe Doc Watsons Gitarrenkoffer getragen und danach beim T-Shirt-verkauf geholfen. Das war eine wirklich einprägsame Erfahrung für mich«

Was ist bei diesem Besuch genau passiert? Hat Doc  Ihnen den Kopf getätschelt und gesagt, »Übe fleißig weiter, mein Sohn«?
Ich saß bei ihm im Wohnzimmer und habe etwas auf der Gitarre vorgespielt. Im Gitarrenunterricht hatte ich ein Stück von ihm gelernt, »Doc’s Tune«. Obwohl ich es nicht besonders gut konnte, hat er mich gelobt und ermutigt. Am selben Abend waren wir mit seinem Enkel, meinem Vater und einem gemeinsamen Freund bei einem Konzert von Doc. Ich habe seinen Gitarrenkoffer getragen und danach beim T-Shirt-verkauf geholfen. Das war eine wirklich einprägsame Erfahrung für mich.

War Ihnen damals klar, dass Doc Watson nicht nur ein Typ aus der Nachbarschaft ist, sondern ein weltweit geachteter Meister?
Nicht wirklich. Mein Vater hatte ein Platte von ihm, ich wusste also, dass er nicht ganz unbekannt war. Aber als Kind konnte ich die Tragweite der Situation nicht ermessen – und das war gut so, sonst wäre ich bestimmt total nervös geworden.

Gab es außer Doc Watson noch andere Musiker, die Sie und Ihren Bruder beim Weg in die Roots-Musik begleitet haben?
Ich hatte eine intensive Piedmont-Blues-Phase. Blind Boy Fuller war sehr wichtig für mich, er kam aus Durham, das ist nur ein paar Stunden entfernt von uns. Später haben wir Charlie Poole entdeckt, auch er kam aus derselben Gegend wie wir.

Nun machen die Avett Brothers aber keine Retro-Musik. In Ihrem Sound kann man auch Spuren von Rock und Punk hören.
Scott und ich stehen auf Typen, die ihren eigenen Weg gehen, so wie Tom Waits. Den wollte man zu Beginn seiner Karriere in die Schublade des Gossen-Troubadours stecken, aber er hat sich da rausgekämpft und sein Ding durchgezogen. So etwas imponiert uns. Auch wir wollen der Richtung folgen, die der Song uns vorgibt und es nicht in irgendeine Schublade stecken lassen. Außerdem lieben wir nicht nur akustische Musik, sondern auch HipHop, Metal, Rock’n’Roll, Blues und Jazz.

Ihre Musik klingt frischer, jünger als vieles andere im Americana-Bereich. Wie geht das?
Hm. Vielleicht liegt es daran, dass wir unsere eigene Stimme gefunden haben. Wenn man das geschafft hat, klingt man als Künstler immer frisch. Wenn man aber faul wird und sich auf den Errungenschaften der Vergangenheit ausruht, hört sich die Musik bald langweilig an. Außerdem sind Scott und ich ein gutes Team. Wenn der eine nicht mehr weiter weiß, hat der andere meist eine Idee, wie es weitergehen könnte.

Ihr Durchbruch kam 2009 mit dem von Rick Rubin produzierten Album I And Love And You. Ich stelle es mir ziemlich unwirklich vor, wenn sich plötzlich so ein berühmter Produzent bei einem meldet.
Zu der Zeit waren wir bereits mit mehreren großen Labels in Kontakt. Rick hat uns zu sich nach Hause eingeladen, und so saßen wir eines Tages auf seiner Terasse in Malibu, redeten über unser letztes Album, unsere Vorstellungen von der Zukunft – er meinte, dass er unsere Musik sehr schätzen und gerne mit uns zusammenarbeiten würde. Es dauerte dann allerdings noch anderthalb Jahre, bis der Deal unterschriftsreif war. Inzwischen sind wir eng mit ihm befreundet.

Rubin hat auch Ihr neues Album The Carpenter produziert. Wie ist er denn so im Studio?
Er führt dich, aber ohne dich allzu aufdringlich in eine bestimmte Richtung zu schieben. Wenn wir den Faden verlieren, greift er ein und schlägt vor, wie man weitermachen könnte. Er ist ein ruhiger, sehr geduldiger Produzent, der dir und deiner Musik viel Raum gibt.

Ein Markenzeichen der Avett Brothers: Viele Ihrer Songs sind sehr persönlich.
Unsere ersten Platten hat kaum jemand gehört, deshalb war es eigentlich egal, welche Geheimnisse wir enthüllt haben. Heute hören sich viele Fans unsere Songs sehr genau an, nehmen sie regelrecht auseinander. Wir wollen trotzdem ehrlich bleiben, denn auch die Musik, die wir lieben, zeichnet sich dadurch aus, dass Verletzlichkeit und ehrliche Gefühle offenbart werden. Die Gefahr dabei ist, dass Ehrlichkeit schnell manieriert wirken kann.

Ein weiteres Markenzeichen ist Ihr Harmoniegesang. Kommt das ganz natürlich, oder feilen Sie und Ihr Bruder lange an den Harmonieparts herum?
Beides. Wir müssen uns keine Mühe geben, dass sich die Textur unserer Stimmen ergänzt, dafür singen wir schon zu lange zusammen. Aber wir geben uns große Mühe, die Töne zu treffen und uns schöne Melodien auszudenken, da sind wir alles andere als perfekt.

Überhaupt scheinen Sie und Ihr Bruder sich ziemlich gut zu verstehen. Gab es trotzdem einmal einen großen Streit zwischen Ihnen?
(Lacht.)
Scott, er möchte wissen, worüber wir uns gestritten haben. (Scott murmelt etwas im Hintergrund.) Stimmt, das war krass, ein wirklich memorabler Streit. Es geschah bei den Aufnahmen für unser Album Four Thieves Gone. Dafür haben wir uns zweieinhalb Wochen in ein abgelegenes Haus in den Bergen zurückgezogen. Gegen Ende dieser Zeit bekam Scott einen Koller. Er musste einfach raus, obwohl wir noch nicht fertig waren. Ich weiß noch, wie ich am Schlagzeug saß und einen Drumtrack aufnahm, während Scott plötzlich neben mir anfing, irgendwelche Sachen zusammenzupacken und mit lautem Türenknallen nach draußen zu bringen. Ich habe ihn höflich darauf hingewiesen, dass ich hier gerade etwas aufnehmen würde – daraus entwickelte sich ein herrlicher Streit. Aber meist verstehen wir uns gut.