SZ-Magazin: Joan Baez, seit mehr als fünfzig Jahren singen Sie Protestsongs. Wie lautet Ihr Fazit: Kann ein Lied die Welt verändern?
Joan Baez: Ohne andere Aktionen drumherum haben Songs nur ein begrenztes politisches Potenzial. Sie können auf Demos für gute Laune sorgen und die Teilnehmer ermutigen – aber es muss halt eine Demo geben. Doch wenn beides zusammenkommt, haben Songs schon eine Wirkung. Bei den Umwälzungen in Südafrika zum Ende der Apartheid war Musik sehr wichtig, genauso bei der Revolution in Estland oder bei der Volksbewegung in Serbien vor dem Sturz von Milosevic.
Und in den USA?
Ich denke, es gibt heute mehr Gründe zu protestieren als je zuvor. Aber zwischen den einzelnen Gruppen gibt es zu wenige Verbindungen – anders als in den Sechzigern, als sich alle als Teil einer großen Bewegung fühlten. Bei Obamas erster Kandidatur entstand zum bisher letzten Mal eine solche Bewegung. Aber als er die Wahl gewonnen hatte, war’s schnell wieder vorbei.
Wie wichtig waren Protestsongs für die amerikanische Bürgerrechtsbewegung?
Bei Demos und Protestaktionen kam von überall her Gesang. So entstand ein Gemeinschaftsgefühl, und man konnte sich gegenseitig Mut machen. Viele der Songs, die wir gesungen haben, basierten auf alten Sklavenliedern, was ja irgendwie gepasst hat.
Sie waren dabei, als Martin Luther King seine berühmte »I Have a Dream«-Rede hielt. Am selben Mikrofon sangen Sie mit den Demonstranten We Shall Overcome. Ein sehr optimistischer Moment?
Ich glaube, ich habe schon früh erkannt, dass man viele kleine Momente braucht, um etwas zu ändern, nicht nur einen großen. Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft habe ich genauso in einer kleinen Kirche in Grenada, Mississippi, gespürt, wo sich der Bürgerrechtler Andy Young um schwarze Kinder gekümmert hat. Solche Tage waren genauso wichtig für mich wie der große Tag in Washington.
Nun gibt es gerade ein Revival der akustischen Musik, mit Gruppen wie Mumford & Sons und den Avett Brothers.
Diese Kids sind toll, total frisch und brillant. Den Aktivismus, der die Folkszene der Sechziger geprägt hat, kann ich dort allerdings bisher nicht entdecken. Es scheint etwas zu fehlen, was sie über den gemeinsamen Musikgeschmack hinaus verbindet. Man wird sehen, ob daraus eine Bewegung wird, die etwas bewirken kann.
Dazu bräuchte es wohl auch neue, aktuelle Protestsongs.
Die Occupy-Leute haben lange versucht, ein Kampflied für ihre Bewegung zu schreiben, vergeblich.
Kann man sich so etwas vornehmen?
Viele talentierte Menschen haben das probiert – und sind alle gescheitert. Es müssen schon viele tausend Songs komponiert werden, damit eine einzige Hymne darunter ist. Ich glaube, »Joe Hill« ist genau der Song, den Occupy gerne geschrieben hätte.
Dieses alte Kampflied über einen Gewerkschaftsführer haben Sie in Woodstock gesungen und singen es bis heute bei fast jedem Konzert – obwohl die Arbeiterbewegung in den USA schon lange keine Rolle mehr spielt.
Für mich ist der Song ein Symbol. Er richtet sich an alle, die um etwas kämpfen – nicht nur an jene, die Mitglied in einer Gewerkschaft sind.
Hat Ihr Engagement Sie schon mal in echte Gefahr gebracht?
In Argentinien wollte ich 1981 zusammen mit den Müttern der Verschwundenen demonstrieren. Wir waren mit Adolfo Pérez Esquivel (Menschenrechtsaktivist und Friedensnobelpreisträger, Anm. d. Red.) zusammen, er ging kurz raus, und als er wieder reinkam, zitterte er am ganzen Leib. »Du kannst heute nicht demonstrieren«, sagte er – draußen auf der Straße hatte er Sicherheitskräfte gesehen mit Gewehren im Anschlag. In Brasilien wurde mir im Hotel einmal ein Zettel überreicht mit der Aufforderung, am Abend in der Konzerthalle auf keinen Fall ans Mikrofon treten – sonst würde ich verhaftet. Ich habe dann einfach mitten in der Halle gesungen, ohne Mikro. Alle im Publikum haben mitgesungen, und die Polizei hat sich nicht getraut, etwas zu unternehmen.
Zweimal wurden Sie aber verhaftet.
Ja, in Kalifornien, zusammen mit meiner Mutter und vielen anderen Frauen. Wir hatten den Eingang der lokalen Einberufungsbehörde der US-Armee in Oakland blockiert. Aber damit will ich mich nicht brüsten, ich war schnell wieder draußen. Im Gefängnis habe ich übrigens auch viel gesungen. Die Wärter hatten damit ziemliche Schwierigkeiten: Sie wussten nicht, wie sie reagieren sollten.
Wissen Sie eigentlich, welcher Song in Ihrem Repertoire der älteste ist?
Kann schon sein, dass ein paar Sachen, die ich singe, aus der Steinzeit kommen, wer weiß das schon. Aber wahrscheinlich sind es die alten englischen und irischen Balladen. Da stammen einige mindestens aus dem 16. Jahrhundert.
Was muss ein Lied haben, um mehrere Jahrhunderte zu überdauern?
Das weiß ich selbst nicht so genau. Oft haben diese Lieder etwas Hymnisches. Sie wirken groß und wahrhaftig, selbst wenn sie ganz alltägliche Dinge behandeln. Aber um nicht vergessen zu werden, muss ein Song auch gut konstruiert sein. Ihn einem Publikum aus dem Nichts heraus vorsetzen zu können, ist ein wichtiges Qualitätsmerkmal.
Zu Beginn Ihrer Karriere haben Sie vor allem alte Folkballaden gesungen, die von Dingen handeln wie unerfüllter Liebe, Betrug, Eifersucht und dem Tod auf dem Schafott. Warum haben diese traurigen Lieder Sie so angesprochen?
Das haben mich die Leute damals auch schon gefragt. Ich wusste keine Antwort. Aber es gibt Gründe für alles, was wir tun, und für jeden Song, den wir singen. Inzwischen denke ich, dass mein Hang zu den alten, traurigen Liedern damit zusammenhing, dass ich damals viele Sorgen und Nöte in mir vergraben hatte. Erst mit der Zeit ist mir klar geworden, was da alles in mir schlummerte und warum ich so eine tiefe emotionale Verbindung zu den alten Balladen gespürt habe.
Nehmen wir Silver Dagger, den ersten Song auf Ihrem ersten Album. Darin klagt ein Mädchen darüber, wie falsch die Männer sind, und warnt ihren Verehrer, er solle bloß verschwinden, bevor ihre Mutter den silbernen Dolch zückt, den sie sogar im Schlaf stets in der Hand hält. Das Lied endet mit der Zeile: »I’ve decided to sleep alone all of my life«. Wieso interessiert sich eine 19-Jährige für so was?
Ich finde inzwischen die Frage spannender, warum Songs wie »Silver Dagger« damals auch so viele andere Menschen interessiert haben. Zu meiner eigenen Überraschung habe ich mit meinen ersten Platten ja einen Nerv getroffen.
Als im November 1960 Ihr erstes Album erschien, waren Sie außerhalb der Folkszene von Boston unbekannt. Doch schon bald verkauften sich Ihre Alben millionenfach, ohne Werbung und Fernsehauftritte. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Es lag bestimmt auch daran, dass meine Generation die Schnauze voll hatte von der oberflächlichen Konsumwelt, die uns aufgedrängt wurde. Jetzt sind wir übrigens wieder an einem solchen Punkt angekommen, glaube ich. Meine Songs waren jedenfalls anders als die Songs, die damals im Radio liefen. Sie haben nicht nur Teenager angesprochen, sondern auch Professoren, Kinder und Großmütter. Aber wenn ich ehrlich bin, ist mir der Erfolg, den ich damals hatte, immer noch ein Rätsel. Ob es auch an der emotionalen Tiefe dieser Lieder lag? Am Ende tragen wir womöglich alle einen silbernen Dolch im Herzen.
»Für Beziehungen bin ich einfach nicht geschaffen«
Haben die alten Balladen Ihre Weltsicht geprägt?
Wenn man so tief in etwas eintaucht, bewirkt es schon etwas. Geprägt haben mich allerdings eher politische Lieder. Als ich 13 war, hat mich meine Tante zu einem Konzert von Pete Seeger mitgenommen, und das hat für mich alles verändert. Meine Ansichten zu Pazifismus und Gewaltlosigkeit wurden auch von den Liedern geformt, die man damals in der Bewegung sang.
Auf Ihren frühen Alben hört man davon aber nichts.
Wissen Sie, woran das lag? Am Beginn meiner Balladen-Phase hatte ich mich verliebt! Ein paar Jahre lang habe ich mich für kaum etwas anderes interessiert als für meine Musik und für meinen Freund Michael. Deswegen gibt es auf den Alben, die ich damals aufnahm, so wenig Politik.
Hängt das vielleicht auch damit zusammen, dass Bob Dylan zu diesem Zeitpunkt noch keine politischen Songs geschrieben hatte?
Das kam noch hinzu. Ich merkte, dass etwas in meinem Repertoire fehlt. Aber ich wusste nicht, wie ich diese Lücke füllen sollte – es lagen nun mal nicht überall tolle neue Protestsongs herum. Als Bob auftauchte, war ich wie im Delirium über die Sachen, die er schrieb. Sie nahmen schnell einen großen Teil meines Repertoires ein. Und meiner Gefühle.
Es heißt, dass Sie eine Art Erleuchtung hatten, als Sie auf einer Party in Boston erlebten, wie er With God On Our Side sang.
Die Party in Boston gab es, aber es war nicht With God On Our Side, sondern A Hard Rain’s A-Gonna Fall. Und ich hatte schon Ähnliches empfunden, als ich ihn eine Weile davor in einem Folkclub in New York gehört hatte.
Kann man die Qualität von Bob Dylans Songs auch damit erklären, dass er die Melodien oft von Folksongs übernahm, die ihren Reiz und ihre Langlebigkeit ja schon bewiesen hatten?
Wahrscheinlich ja. Was diese besondere Art des Plagiats angeht, ist er einfach genial! Er schreibt so, dass die Worte immer genau richtig ins Netz der Musik fallen. Das ist einer der Gründe, warum ich es immer noch liebe, seine Songs zu singen.
Sie haben weiterhin etliche Dylan-Lieder im Programm, von Blowin’ In The Wind bis zu frühen, obskuren Nummern wie Seven Curses…
… der nicht mal von ihm ist. Als Autor steht überall »Bob Dylan«, in Wahrheit ist es aber ein Folksong, wahrscheinlich aus England. Dennoch kassiert er Tantiemen dafür. Erstaunlich, nicht?
Können Lieder in schwierigen Zeiten Trost spenden?
Diese Erfahrung habe ich schon mit 13 gemacht, als ich gelernt habe, Ukulele zu spielen. Das hat mir das Leben gerettet, ich bin damals immer wieder von großer Schwermut befallen worden. Die Musik hat mir Freude gemacht, mich beruhigt und mir einen sinnvollen Zeitvertreib verschafft. Und diese Rolle spielt die Musik bis heute für mich – obwohl ich nach sehr langwieriger und ernsthafter Tiefenanalyse nun an einem Punkt bin, wo mich nicht mehr ohne Anlass diese tiefe Traurigkeit überkommt.
Über Weihnachten 1972 waren Sie als Teil einer Friedensmission in Hanoi, als die US-Luftwaffe die »Operation Linebacker II« begann, ein zwölftägiges Bombardement der nordvietnamesischen Hauptstadt. Hat Ihnen auch in dieser Situation die Musik geholfen?
Ja, auch unten im Schutzraum habe ich gesungen. Songs wie »Kumbaya«, »Oh, Freedom« und »Swing Low«. Die alten Spirituals haben uns Kraft gegeben. Dort unten saßen auch viele Atheisten, aber in den Bombennächten haben alle zu Gott gebetet.
Dieser Angriff gilt als schlimmstes Bombardement, das seit Ende des Zweiten Weltkriegs niederging. US-Flugzeuge warfen rund 20 000 Tonnen Sprengstoff ab, fünfmal so viel wie beim alliierten Luftangriff auf Dresden im Jahr 1945.
Ich war nicht dort, um zu beweisen, wie mutig ich bin. In Hanoi war seit einem Jahr nicht mehr gekämpft worden. Als es losging, waren alle geschockt – vor allem die Vietnamesen.
Warum haben Sie erst so spät angefangen, selbst Songs zu schreiben?
Ich bin einfach nicht darauf gekommen. Ich sah mich als Sängerin, die die Lie der anderer Menschen interpretiert. Bis schließlich Dylan eines Tages zu mir sagte, ich solle doch auch mal selbst was schreiben.
Sie haben seinen Rat befolgt, aber keine Protestsongs verfasst. Warum?
Ich war schlau genug zu erkennen, dass ich das nicht kann.
Stattdessen sind Ihre eigenen Songs sehr persönlich, man könnte auch sagen …
Unverblümt?
Genau.
Eine Journalistin hat mir einmal vorgeworfen, meine Ehrlichkeit sei geradezu neurotisch. Sie wollte das alles gar nicht hören, was ich ihr erzählt habe.
Aus »Diamonds And Rust«, Ihrem bekanntesten Song, erfährt man viel über Ihre Beziehung zu Bob Dylan, bis hin zu solchen Details, dass Sie ihm Manschettenknöpfe geschenkt haben und er Sie aus einer Telefonzelle im Mittleren Westen anrief. War das wirklich alles so?
Ja, genau so. »Diamonds And Rust« handelt von meiner tiefen Verbindung zu Bob und ist auf jeden Fall der beste Song, den ich geschrieben habe.
In »Love Song To A Stranger« erteilen sie der Liebe eine Absage und plädieren für den schnellen Sex zwischendurch.
So habe ich viele Jahre lang gelebt. Für Beziehungen bin ich einfach nicht geschaffen. Aber die Promiskuität macht einen auch nicht dauerhaft glücklich, sondern nur ein paar Nächte lang. Nun denn, ich hatte meinen Spaß und bereue nichts.
Es heißt immer, heute würde weniger gesungen als früher. Stimmt das?
Schwierig zu sagen. Auf meine Konzerte bezogen stimmt es aber schon. Früher haben alle mitgesungen, das gemeinsame Singen war ein großer Teil des Abends. Das war auf einmal weg, und ich musste mit Schrecken feststellen, dass ich alles allein machen muss.
Sie haben schon lange die Angewohnheit, nicht nur vor zahlendem Publikum zu singen, sondern in allen möglichen Situationen. Im März sollen Sie nach einem Konzert in Rom noch spontan in einem Restaurant aufgetreten sein!
Wir sitzen gerade beim Essen, als fünf Kids reinkommen und anfangen, Musik zu machen. Ich tanze für mein Leben gern, deshalb bin ich auf den Tisch geklettert, auf der anderen Seite runtergesprungen und habe mir einen Typen geschnappt, der Swing tanzen konnte. Als wir fertig waren, baten die Kids mich, ein paar Lieder zu singen.
Und wenn Sie zu Hause in Woodside, Kalifornien, Besuch bekommen, holen Sie dann die Gitarre raus, und man singt gemeinsam?
Nein, ich lebe recht zurückgezogen. Es ist eine Anlage mit mehreren Häusern, ein alter Freund von mir wohnt dort, außerdem eine Familie aus Tonga mit vier Kindern und vier Hunden – die Frau war eine der Pflegerinnen meiner Mutter, die vor zwei Jahren kurz nach ihrem hundertsten Geburtstag gestorben ist. Ich habe also genug Menschen um mich. Die Tore sind allerdings verschlossen, man kann nicht einfach hereinspazieren, so wie in den Sechzigern, als die Leute in meinem Vorgarten ihr Zelt aufgeschlagen haben.
Und alle nackt herumliefen.
Zumindest meine Nachbarn und die Leute in der nahegelegenen Kommune.
»The queen of folk music then and now« – so hat Bob Dylan Sie diesen Februar genannt, als er bei einer Preisverleihung eine Rede hielt. Wie fanden Sie das?
Ich bin fast ohnmächtig geworden! Er ist ja nun wirklich niemand, der mit Komplimenten um sich wirft. Das war sehr nett von ihm.
Aber Sie sind bereits 74. Müsste es da nicht langsam eine neue »queen of folk music« geben?
Mag sein. Doch vielleicht ist so ein Titel auch nicht mehr zeitgemäß. Die Leute wünschen sich die Sechziger zurück, aber das wird nicht passieren. Wer schreibt das neue »Imagine«? Keiner. Und wer wird die neue Joan Baez? Niemand.
Foto: Marina Chavez