»Der Blues hat mein Leben verändert«

Tony Joe White im Interview über seine Kindheit auf einer Baumwollfarm in Louisiana, eine Session mit dem Bluesmann Lightnin' Hopkins und eine Nacht, die er, nach Inspiration suchend, auf einem Friedhof in Mississippi verbrachte.

Foto: Yep Roc Records

Tony Joe White, eigentlich wollte ich als erstes eine Frage zu Ihrer Kindheit stellen. Nachdem ich auf Ihrem neuen Album den Song »Nine Foot Sack« gehört habe, ist das aber gar nicht mehr nötig, denn darin beschreiben Sie recht detailliert, wie Sie als Sohn eines armen Baumwollfarmers im ländlichen Louisiana aufgewachsen sind.
Ja, da erzähle ich, wie es war. Ich komme aus einem winzigen Dorf namens Goodwill, in dem es eigentlich nur einen Laden, eine Kirche und eine Baumwoll-Maschine gab. Die Sümpfe waren fünf Meilen entfernt. Mein Vater hatte ein Baumwollfarm unten am Fluss. Wir waren sieben Geschwister, fünf Mädchen und zwei Jungs. Ich war der Jüngste. Zur Erntezeit waren wir alle draußen auf den Feldern und haben Baumwolle gepflückt.

Das soll ziemlich anstrengend sein.
Das ist echt harte Arbeit. Besonders in Louisiana, mit der Hitze und der hohen Luftfeuchtigkeit dort. Mit sieben oder acht habe ich angefangen, auf der Farm zu arbeiten. Damals hat mich die Hitze allerdings nie gestört, ich kannte gar nichts anderes. Wir hatten natürlich keine Klimaanlage in unserem Haus, stattdessen sind wir nachmittags in den Fluss gesprungen, um uns ein bisschen abzukühlen. Wir kamen nach Hause und haben uns mit noch feuchten Klamotten ins Bett gelegt. Am nächsten Morgen ging’s weiter.

Man kann sich beim Baumwollpflücken leicht die Hände zerschneiden, oder?
Ja, stimmt. Aber wir haben nicht groß darüber nachgedacht, das war einfach so.

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Eine ganze Generation von Musikern aus dem amerikanischen Süden, Sänger wie Johnny Cash und Willie Nelson, hat ebenso wie Sie in jungen Jahren Baumwolle gepflückt. Glauben Sie, dass solch harte körperliche Arbeit eine Person auf bestimmte Weise prägt?
Ich weiß nicht, ob es deinen Verstand prägt, aber es prägt auf jeden Fall deinen Rücken – weil du immer gebückt gehst und den schweren Sack hinter dir herziehen musst.

Haben Sie Cajun-Musik gehört, bevor Sie mit Rock’n’Roll und Rhythm & Blues in Kontakt kamen?
Nein, Cajun und Zydeco waren in unserem Teil von Louisiana nicht so populär. Aber alle in meiner Familie haben Gitarre oder Klavier gespielt. Ich habe deshalb von Anfang an viel Musik gehört, hauptsächlich Gospel und Hillbilly-Country. Als ich 16 war, brachte mein Bruder ein Album von Lightnin’ Hopkins mit nach Hause. Das war ein musikalischer Wendepunkt für mich und ich habe mich total für diesen Mann begeistert, der mit dem Fuß den Rhythmus gestampft und auf seiner Gitarre den Blues gespielt hat.

»Eines Tages kam im Radio ›Ode To Billie Joe‹ von Bobbie Gentry. Für mich war das der wahrhaftigste Song, den ich je gehört hatte!«

Da ist sie wieder, die Kraft des Blues!
Auf jeden Fall. Bis dahin wollte ich Baseball-Profi oder so was werden, aber der Blues hat mein Leben geändert. Von da an habe ich mir in jeder freien Minute die Gitarre meines Vaters geschnappt und mich in irgendeine Ecke verzogen, um die Licks von Lightnin’ Hopkins zu lernen.

Hat es Ihnen bei Ihren Blues-Studien geholfen, dass Sie aus der Gegend kommen, wo der Blues entstand?
Irgendwie fühlte ich mich diesem Sound nahe. Später, als ich schon Erfolg mit »Polk Salad Annie« und »Rainy Night In Georgia« gehabt hatte, hat mich eine Plattenfirma in LA gefragt, ob ich Lust hätte, ein Album zusammen mit Lightnin’ Hopkins aufzunehmen. Ich sollte ihn auf der Gitarre und der Mundharmonika begleiten und außerdem die Liner Notes für die Platte schreiben. War echt cool, mit einem meiner großen Helden zu spielen.

Wie heißt das Album?
California Mudslide. 

Hat Ihnen Lightnin’ Hopkins während der Sessions irgendeinen Rat gegeben?
Einen Rat? (Er lacht.) Nein. Ich erzähle Ihnen, wie es war: Er und seine Frau kamen mittags um eins ins Studio. Sie trug eine Papiertüte in der Hand, darin seine Weinflasche. Er hat mich gemustert und gefragt: »Du willst also mit mir spielen, Junge?«. Ich habe zwei, drei Licks gespielt, da rief er »Allright!« und hat gelacht. Dann hat er seine Gitarre ausgepackt, sich hingesetzt und ins Mikro gerufen: »Los geht’s, stellt die Maschine an!« Als die Aufnahme lief, hat er losgespielt, ich habe ihn begleitet. Er hat zwölf oder vierzehn Songs gespielt, nur unterbrochen von gelegentlichen Schlucken aus seiner Weinflasche. Als wir fertig waren, hat er mir die Hand geschüttelt und gesagt »Hat Spaß gemacht, mit dir zu spielen, Junge.« Die Weinflasche war inzwischen leer, seine Frau hat also die leere Papiertüte genommen und dem Typen von der Plattenfirma hingehalten, der zehn Hundert-Dollar-Noten in die Tüte gezählt hat. »Danke für den netten Nachmittag« hat die Frau gesagt und die Tüte zusammengefaltet. Dann sind sie gegangen.

Es heißt, Sie hätten Ihr neues Album Hoodoo auch ziemlich zügig aufgenommen, ohne endloses Studio-Gefrickel.
Ja, kann man so sagen. Mein Studio befindet sich in einem alten Haus in Franklin, Tennessee, das noch aus der Zeit vor dem amerikanischen Bürgerkrieg stammt. Da gibt es viel schönes, altes Holz, deshalb klingt das Haus ziemlich gut. Wenn ich einen Song fertig hatte, habe ich meinen Schlagzeuger und meinen Bassisten angerufen. Ich habe den beiden immer nur 30 Sekunden vorgespielt, bevor wir die Aufnahme gestartet haben. Spielt mit eurem Herzen und eurer Seele, habe ich gesagt. Viele der Titel auf dem Album sind First Takes.

Ich nehme an, es wurde analog aufgenommen?
Ja, klar. Ich mag einfach das Rauschen des Tonbands.

Bevor Sie berühmt wurden, haben Sie lange in den Honkytonks von Texas und Louisiana gespielt. Das waren bestimmt lehrreiche Jahre.
Ich hatte damals noch nicht angefangen, selbst Songs zu schreiben. Mein Repertoire bestand aus Elvis, Lightnin’, John Lee Hooker, Muddy Waters. Dann kam im Radio eines Tages »Ode To Billie Joe« von Bobbie Gentry. Für mich war das der wahrhaftigste Song, den ich je gehört hatte! Ja, ich fühlte mich selbst als Billie Joe – so gut kannte ich das Leben, das in dem Song beschrieben wird. Ich beschloss, falls ich selbst mal einen Song schreiben sollte, diesen von etwas handeln zu lassen, mit dem ich mich auskenne. Keine drei Wochen später begann ich, an »Polk Salad Annie« und »Rainy Night In Georgia« zu arbeiten, tatsächlich ging es auch darin um das Leben, das ich kannte. Ich hätte allerdings nie gedacht, dass sich meine allerersten Songs als so langlebig erweisen würden.

Ich muss gestehen, dass mir bis heute nicht ganz klar ist, warum Billie Joe McAllister von der Tallahatchie-Brücke springt.
Dieselbe Frage habe ich Bobbie Gentry auch gestellt, als wir mal zusammen in Europa auf Tour waren. Kapierst du’s wirklich nicht, hat sie mich gefragt. Nein, ich kapier’s wirklich nicht, habe ich gesagt. Also: Billie Joe hat das Mädchen, die Erzählerin, geschwängert. Aber sie waren beide noch wahnsinnig jung und wussten nicht, was sie machen sollen. So habe ich es inzwischen verstanden.

Ihre Songs sind von etlichen Künstlern gecovert worden. Haben Sie Lieblingsversionen?
Da muss ich zum allerersten Mal zurückgehen, an dem ich hörte, wie jemand einen Song von mir singt: Das war Brook Benton mit »Rainy Night In Georgia«. Natürlich hat es mir auch sehr gut gefallen, dass Elvis »Polk Salad Annie« gesungen hat. Seine Version war ziemlich anders als meine, er hat fast einen neuen Song daraus gemacht.

Ende der Achtziger hat dann Tina Turner auf dem Album Foreign Affair plötzlich vier Ihrer Songs aufgenommen.
Ja, das hat meiner Karriere sehr gut getan. Ich war während der Aufnahmen im Studio dabei und habe ein bisschen Gitarre und Mundharmonika gespielt; es sollte ein bisschen wie meine Demos klingen. Roger Davies, ihr Manager, hat sich danach auch um mich gekümmert. Nach zehn oder zwölf Jahren hat er an meinen Sohn übergeben.

In dem Song »The Gift« auf Ihrem neuen Album geht es um einen weißen Jungen, der im Bann der Musik der Vergangenheit steht. Sind Sie das?
Ja, irgendwie schon. Dieser Junge da hat eine Melodie im Kopf, aber das belastet ihn, weil er nicht weiß, was er damit machen soll. Plötzlich sitzt er nachts auf einem Friedhof in Mississippi, mit seiner Gitarre und einer Flasche Wein, und als er seine Melodie spielt, tauchen auf einmal all diese Figuren auf.

Haben Sie selbst auch schon mal nachts auf dem Friedhof gesessen, um einen Song zu schreiben?
Klar. In der Nähe von Clarksdale, Mississippi. Ich bin allerdings nicht die ganze Nacht geblieben.