»Früher hätte ich gedankenlos gesagt: Ist ja wie ausgestorben hier«

Gehen oder bleiben? Yuko und ihr Freund Yudai entscheiden sich dafür, Tokio zu verlassen, wenigstens für ein Wochenende. Doch auch im Süden von Japan, fernab des Erdbebengebiets, ist die Katastrophe immer präsent. Teil fünf ihres Krisen-Tagebuchs.

18. März
00:00 Uhr Ein richtiges Nervenbündel war ich während der letzten Tage. All die Warnungen der Regierung, es könne Stromausfälle geben. Ich habe einen riesenlangen Tagebucheintrag geschrieben nach Deutschland geschickt. Wer weiß, dachte ich, wann es das nächste mal wieder Strom geben wird. In einem Tag, in zwei Tagen? Und dann ist doch nichts passiert. Ich weiß, ich habe das schon einmal geschrieben. Es kommt mir vor, als würde ich die Zusammenfassung einer amerikanischen Serie schreiben. „Zuletzt bei Yuko...“

Entscheidungsgrundlage
02:00 Uhr. Yudai ist ausgetickt. Seit dem Erdbeben war er eigentlich äußerst gechillt, die Ruhe selbst. Bis jetzt. Auf Youtube zeigt er mir die Aufzeichnung einer Diskussion im Fernsehen. Ein japanischer Sachbuchautor vertrat seine Meinung über die nukleare Krise. Seine Ausführungen und Analysen waren drastisch, deren Wahrheitsgehalt eher so fifty-fifty. Jede Meinung und jede Analyse, optimistische und pessimistische, von japanischen Professoren wie auch von der ausländischen Presse, scheinen auf Mutmaßungen zu basieren. Und auf Grundlage dieser Mutmaßungen muss nun ein jeder Einzelne von uns entscheiden, was zu tun ist. Na danke.

Reis kochen, Brot backen
12:00 Uhr. Es ist fast schon komisch. Ich mache den Reiskocher an. Ich vermute, Sie würden in dieser Situation ein Brot backen oder so. Bei mir ist es, als hätte ich mit dem Gerät einen Notstromaggregat angestellt. “Get ready for action.” Nun führen Yudai und ich ein ernsthaftes Gespräch.

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Entscheidungshilfe
14:00 Uhr. Ein paar Telefongespräche mit guten Freunden in Tokio, deren Urteilsvermögen ich vertraue. Außerdem mit meinem Vater, der in seinem Büro in Tokio sitzt. Und mit meiner Mutter, die zuhause arbeitet, in Yokohama, meiner Heimatstadt. Das ist ganz in der Nähe von Tokio.

Angel Cards
16:00 Uhr. Yudai: „Weißt du was? Lass uns das hier einfach als verlängerten Wochenendausflug sehen. Es ist eh viel zu deprimierend, jetzt in Tokio zu bleiben. Der nächste Montag ist ein Brückentag, der ist frei, und wir kommen einfach am Dienstag zurück. Grundgütiger, falls wir wie geplant zurück kommen können. Falls nicht, werden wir uns eben dann etwas ausdenken.“ Ich: ziehe zwei Karten aus meinem mädchenmäßigen „Angel Card“-Set. Angel Cards sind den europäischen Tarot-Karten sehr ähnlich. Ich ziehe „Unterstützung“ und „Verzauberung“. Unterstützung und Verzauberung.

Dienstag sind wir zurück
19:00 Uhr. Bereite mich auf mein Meeting für die geplante Fernsehreklame vor.  Das soll um 21:00 Uhr stattfinden. Wenn ich damit fertig bin, fahre ich ohne Umwege nach Hause und packe meine letzten Sachen für den Wochenendausflug. Ja, Yundai und ich haben uns endgültig für einen kurzen Abstecher entschieden. Brauchen keine Unterstützung. Es geht nach Kumamoto, südliches Japan, morgen. Planen Dienstag zurück zu sein. Hoffen auf Verzauberung.

Ab in den Süden: Yuko und Yudai verlassen Tokio

19. März
Wir verlassen um halb acht Uhr morgens unser Zuhause in Toritsu Daigaku, Tokio. Als wir die Wohnungstür zuschließen, bemerke ich eine seltsame, unausgesprochene Spannung zwischen Yudai und mir. Es ist eine große Unsicherheit, gepaart mit einem starken Willen.

9:00 Uhr Provinz Kanagawa, wenige Kilometer südwestlich von Tokio. Der Shikansen, der japanische Super-Schnellzug, verlässt den Bahnhof Shin Yokohama. Und wir fahren mit. Endlich fühle ich, wie sich die Erleichterung in mir ausbreitet.

10:00 Uhr Yudai lacht mich aus. Ich bin vielleicht aufgeregt, fast wie ein kleines Kind. Wir fahren am Fujisan vorbei, und ich knipse ganz viele Bilder. Ich schnattere in einer Tour, kitzele Yudais Bauch und esse eine Unmenge Süßigkeiten, so dass mir beinahe schlecht wird.

12:00 Uhr Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Aber plötzlich muss ich weinen und kann gar nicht mehr aufhören. Da fällt es mir wieder ein: Es ist ja alles so über alle Maßen traurig.

14:00 Uhr Ankunft in Kyushu, der südlichsten der vier Hauptinseln. Es fühlt sich hier so anders an, ganz anders als Tokio, als sei alles ganz normal, als wäre gar nichts geschehen. Schnell weiter nach Kumamoto.

15:00 Uhr Hier ist wirklich gar nichts ist los in Kumamoto. Früher hätte ich gedankenlos gesagt: “Ist ja wie ausgestorben.” Jetzt sage ich es wieder, jedoch nicht, ohne mir vorher Gedanken gemacht zu haben. Verdammt noch mal, was tut die Ruhe gut, die relaxte Atmosphäre, und dazu eine Portion der hiesigen Spezialität, Tonkotsu Nudelsuppe mit Schweinefleisch.

19:00 Uhr Als wir im Hotel sind, erzählt mir Yudai von dem großen Beben, Level 5+ auf der JMA-Skala, das sich soeben ereignet hat. In der Präfektur Ibaraki. Genau nördlich von Tokio.

Yukos Tagebuch (I) - "Fukushima strahlt in unseren Köpfen"
Yukos Tagebuch (II) - "Ich frage mich was eigentlich bebt - ich oder der Boden unter mir"
Yukos Tagebuch (III) - "In Zeiten wie diesen sollten wir uns selbst Gründe geben, fröhlich zu sein
Yukos Tagebuch (IV) - "Ich möchte in aller Bescheidenheit etwas klarstellen"