»Fukushima strahlt in unseren Köpfen«

Yuko Ichimura lebt als Illustratorin und Werbefilmerin in Tokio. Für uns beschreibt sie in Bild und Text, wie ihr Leben zwischen Erdbeben und Atom-Katastrophe aussieht.


14. März 2011

Mein Name ist Yuko Ichimura. Ich bin Illustratorin und Werbefilm-Regisseurin und lebe im Meguro-Distrikt. Das ist in Tokio. Ja, DEM Tokio.

Weitermachen?
13:00 Uhr. Ich arbeite heute von Zuhause aus. Eine Fernsehreklame muss vorbereitet werden. Eigentlich hätte das Meeting schon am Freitag stattfinden sollen. Aber da war ja das Erdbeben. Es fühlt sich nicht richtig an, weiter zu arbeiten, als sei nichts geschehen. Aber was können wir sonst tun? Im Fernsehen laufen die schrecklichen Tsunami-Bilder. Die Zahl der Todesopfer schnellt hektisch nach oben. Sie steigt, steigt, steigt jede Stunde. Unglaublich, wie ruhig die Fernsehmoderatoren bleiben. Mein Smartphone und meine Twitter-Liste dagegen spielen verrückt. So viele Leute suchen über den Nachrichtendienst ihre Angehörigen. Dazwischen immer wieder Geschichten von Überlebenden, von starken Menschen, von mutigen und großherzigen Menschen. Geschichten, die aufmuntern.

Wir sparen Strom
Mein Freund Yudai stellt das TV-Gerät auf lautlos und spielt Bob Marley. Ich teile mir mit ihm eine kleine Wohnung, nur zehn Minuten von Shibuya entfernt. Eigentlich findet er Marley ziemlich cheesy, geschmacklos. Aber er sagt, er braucht das jetzt, sonst kann er all das nicht wirklich ertragen. Die Wohnung ist sehr kalt, deswegen trage ich meine Jacke und einen dicken Schal. Wir sparen Strom und benutzen wenig Licht. Denn die Elektrizität brauchen gerade andere, die Schwerverletzten auf den Intensivstationen, und natürlich die Menschen in Tohoku. Dort haben das Beben und der Tsunami am schlimmsten gewütet. Keiner hat uns angewiesen, Strom zu sparen. Wir machen es freiwillig. Alle machen es freiwillig.

Meistgelesen diese Woche:

di-di-DAH, di-di-DAH
Stündlich Nachbeben. Sofort ertönt der offizielle Notfall-Alarm: "di-di-DAH, di-di-DAH", zweimal, wie ein kurzer Jingle. Gehört habe ich ihn früher so gut wie nie. Auf Twitter heißt es, die Tondesigner hätten ganze Arbeit geleistet. Ich kann da nur zustimmen. Die Tonfolge sticht direkt ins Herz. Es gibt gerade nichts, was mir mehr Angst macht.

In der Agentur
16:00 Uhr. Agenturtreffen im Geschäftsviertel Akasaka. Der Creative Director stammt aus der Präfektur Sendai. Schlimm dort. Aber seine alte Mutter ist in Sicherheit, auch ihr Haus wurde verschont. Elektrizität soll es dort keine geben, und die Nahrung ist knapp. Er möchte ihr alles hochschicken. Aber: "So wie es aussieht, gibt es kein Durchkommen. Überall staut sich der Verkehr, und Tankstellen gibt es auch nicht", sagt er achselzuckend. Dabei grinst er leicht. "Nee, da hilft nichts, da können wir nichts tun", sagt mein Produzent gespielt humorvoll. Seine Schwiegermutter sitzt im Norden fest. Wie schaffen sie es bloß, so ruhig zu bleiben, Witze zu reißen? Jedes mal, wenn der Meeting-Raum von einem Nachbeben erschüttert wird, werden wir automatisch ganz ruhig, schauen zur Decke hinauf und warten darauf, dass das Licht flackert und erlischt.

Es ist schöner
18:00 Uhr. In der Akasaka-Hauptstraße ist alles ruhig, nur ein paar Menschen sind auf der Straße. Starbucks ist geöffnet, doch die Lichter sind aus. In dem schummerigen Licht des Cafés sind kaum Kunden auszumachen. Auch ein Drittel der Leuchtanzeigen bleibt heute ausgeschaltet. Wer bitte hat Tokio zuvor mit so wenigen Lichtern gesehen? In meinem Freundeskreis werden Fotos vom "neuen" dunklen Tokio herumgeschickt. Die Meinung ist einhellig: Es ist schöner, wenn nicht alles so grell erleuchtet ist. Zuvor war alles eine Spur zu hell. Überflüssig hell. Eine Reihe roter Laternen zieht sich durch die Straße. Sie gehören zu einem ziemlich großen Schrein. Sie sehen heute noch ernsthafter aus.

Erdbeben erschüttern den Fernseher
01:00 Uhr. Wieder im kalten Zuhause. Immerhin haben wir Wasser, Strom und Gas, die wichtigen Lebensadern. Fukushima strahlt in unseren Köpfen. Die Tokioter Energiegesellschaft hält jetzt noch eine Pressekonferenz ab. Da ist auch wieder der Regierungssprecher Yuki Edano. In den letzten beiden Tagen ist er wie ein guter Bekannter geworden. Nun im Wechsel: Todesopferzahlen, die Situation der Überlebenden, die Tsunami-Szenen, Stromausfälle, die sich anbahnende nukleare Katastrophe, regelmäßige Nachbeben, die den Fernseher erschüttern. Und natürlich der Alarm, "di-di-DAH, di-di-DAH", zweimal, wie ein kurzer Jingle.

Tragödie, Desaster
Komisch. Bis ich es von meinen Freunden aus Übersee gehört habe, sind mir Begriffe wie "Tragödie" und "Desaster" gar nicht in den Sinn gekommen. Ich denke, ich weiß jetzt, warum: Weil wir mittendrin sind, sogar in Tokio. Auch Tokio ist kein richtiges Krisengebiet. Aber es kommt dir so vor, wenn du zu viel Fernsehen schaust.

Yuko Ichimura, 35, ist Illustratorin und Werbefilmerin aus Tokio. Für uns zeichnet sie die Veränderungen ihres Leben auf ein Blatt Papier, scannt es ein und schickt es nach Deutschland. Ihre Schilderungen wurden vom Englischen ins Deutsche übersetzt. In eigener Sache bat sie uns mitzuteilen: "Die Situation hier ändert sich dramatisch, Tag für Tag. Keiner weiß, was kommen mag. Deswegen versuche ich, an kleinen Dingen festzuhalten. Um den Deutschen wie auch mir selbst einen Sinn für die Wirklichkeit zu geben. Egal, wie die nahe Zukunft aussehen mag." Sie freut sich über Nachrichten auf Facebook, sieht sich momentan aber außerstande, darauf zu antworten. Ihr Honorar für's Tagebuch aus Tokio spendet sie dem Roten Kreuz.