Es war mir egal, woher mein Essen stammt
Das Wetter in Tokio wird frühsommerlich warm. Die vor Kurzem noch verdunkelten Leucht- und Reklametafeln und Hinweisschilder an Geschäften sind seit Anfang Mai fast alle wieder voll beleuchtet. Nach der Arbeit schaue ich immer in einem nahen Gemischtwarenladen vorbei. Dort gibt es "Äpfel aus Aomori" und "Orangen aus Kumamoto", das ist weit nördlich und weit südlich von Fukushima.
Auf Milch einer ganz bestimmten Marke hingegen verzichte ich dankend. Ich habe Dinge im Internet gelesen, unschöne Dinge, darüber, dass diese bestimmte Marke sichere Milch mit radioaktiv verseuchter Milch vermischen würde. Es gibt inzwischen viele Websites von Leuten, die bei den Herstellern anrufen und Auskunft verlangen und die gesammelten Informationen dann ins Netz stellen. Habe ich mich jemals darum gekümmert, woher mein Essen stammt? Nein, bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht.
Die Nachrichtenlage
Ich schalte den Fernseher an, es laufen die Abendnachrichten des NHK. Es ist bereits eine Weile her, seit ich das letzte mal die Fernsehnachrichten gesehen habe. Dieser Tage informiere ich mich eigentlich nur über das Internet.
+++ Tierfutter darf ausgeliefert werden, Radioaktivität wieder unter kritischen Limit. +++
Komisch, denke ich mir, verschwindet Radioaktivität so schnell?
+++Austernfarmen in der Präfektur Iwate wieder in Betrieb. Fischer erleichtert über Neubeginn. +++
Im Bild ein alter Fischer, er sieht sehr glücklich aus. "Wir Fischer vertrocknen, wenn wir nicht auf See dürfen", sagt der Alte. Es folgen Bilder von älteren Menschen, die ihr erstes frisches Sushi nach dem Tsunami genießen. Aus dem Off erklingt eine Stimme: "In Iwate ist im nächsten Monat die beste Zeit für Bonito." Ich liebe Thunfisch, deswegen liebe ich auch Bonito. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn jetzt schon wieder essen würde.
Bitterer Beigeschmack
+++Fischerei-Union der Präfektur Ibaraki bringt TEPCO wegen großer Verluste vor Gericht. Radioaktive Belastungsgrenze bei jungen Sandaalen überschritten. Handelsverbot. +++
Da haben wir es. Die Art von Nachricht, deretwegen alle anderen guten Nachrichten einen bitteren Beigeschmack erhalten.
+++Landwirtschaft in Anrainer-Bezirken von Fukushima leidet unter "schädlichen Gerüchten". Arbeiter aus stark kontaminiertem Dorf nahe Fukushima messen morgens und abends Radioaktivität mit Geigerzähler. +++
+++Erfahrener Tschernobyl-Doktor unterweist besorgte Eltern aus Fukushima. "Achten Sie auf Verstrahlung von Innen!"+++
Jetzt sind wir beim wahren Kern der Katastrophe angekommen. Furchtbar, denke ich, während ich ein Bier trinke. Wörter wie "radioaktiv" und "Verstrahlung" erscheinen vor meinem geistigen Auge, ich sehe uns in Schutzanzügen durch verstrahlte Städte der Zukunft wandeln. Schon jetzt fühlt sich die echte Welt ein wenig an wie ein gruseliger Science-Fiction-Film.
Sicher und hoffnungslos
Ich persönlich pendele gerade zwischen Erleichterung und tiefster Depression. Selbst das Fernsehprogramm scheint mir sagen zu wollen, unsere Situation sei gleichzeitig absolut sicher und vollkommen hoffnungslos. Denn jeder in Japan weiß, dass es sich nicht nur um "schädliche Gerüchte" handelt. Der Schaden ist konkret, und auch wir erleiden ihn, wir Bürger und Verbraucher, wenn wir belastete Lebensmittel zu uns nehmen.
Welche Auswirkungen das hat? Ich denke, wir werden es nicht wissen, bevor zehn Jahre ins Land gegangen sind. Ich weiß nicht, welche dieser Nachrichten sich überhaupt über Japan hinaus einen Weg bahnt. Aber ich wollte Sie an dieser Stelle wissen lassen, was wir zu sehen und hören bekommen. Und das wir trotzdem lachen und trinken und ruhig schlafen können. Egal was auch passiert. Irre, oder?