»In Zeiten wie diesen sollten wir uns selbst Gründe geben, fröhlich zu sein«

Auch an Nachbeben kann man sich gewöhnen. In der trügerischen Ruhe findet Yuko Zeit, Mails an Freunde zu schicken. Zum Beispiel an Kana, die nächste Woche heiraten will. Teil drei ihres Krisen-Tagebuchs.



Mittwoch, 16. März

Ich habe noch überall Shampoo in den Haaren, als es um 11 Uhr ein weiteres, ein richtig schweres Nachbeben gibt. Wenn die Erde zittert, schaue ich immer auf den Kleiderbügel, der als improvisiertes „Erdbeben-Check-Gerät“ an der Wand hängt. Er zeigt mir ganz genau, ob das Wackeln ein Erdbeben ist oder ob meine Seekrankheit wieder zugeschlagen hat. Man gewöhnt sich echt an alles.

Kana heiratet
Im Gegensatz zu gestern bin ich heute viel relaxter und verschicke einige Mails an meine Freunde. Kana ist im fünften Monat schwanger. Sie hat sich entschieden, ihre Hochzeit nicht abzusagen, die für die nächste Woche geplant ist. „In Zeiten wie diesen sollten wir uns selbst Gründe geben, fröhlich zu sein”, schreibt sie.

Yuka harrt aus
In den letzten Tagen ist sie kaum rausgegangen. Yuka arbeitet als Stylistin für Musikvideos und Fotoproduktionen von diversen Magazinen. Aber alle Shootings wurden abgesagt. Beide, die Klienten und die Agenturen, wollten das so. Denn der Stromverbrauch bei einem Foto-Shooting ist sehr hoch. Jetzt spannt auch sie aus und kocht Süßes zur Beruhigung.

Meistgelesen diese Woche:

Yago will weg
„Mann, dieser ganze Nuklearscheiß ist schlecht für dich, nein, nein, du solltest auch in den Westen abhauen“, schreibt Yago der Hippie. Yago macht mal dies, mal das. Ich glaube, im Moment hat er keinen richtigen Job. Jetzt flieht er in den Westen, nach Osaka. Ich bleibe, gebe ihm aber zwei Dinge mit auf den Weg: Gib Geld aus, um drüben im Westen die Ökonomie anzukurbeln. Und für den Rest des Landes – ARBEITE hart!

Ryota muss hin
In die andere Richtung geht es für Ryota. Er ist Psychiater und hat mir erzählt, er müsse in den Norden aufbrechen. Schon bald könnte der offizielle Auftrag kommen, sich um die Überlebenden des Erdbebens zu kümmern. Sei tapfer, Ryota.

Die Kados trennen sich
Kumi und ihr neugeborenes Töchterchen sind in das Haus ihrer Mutter nach Shizuoka gezogen. Das liegt im Westen, etwa 170 Kilometer von Tokio entfernt. Ihr Mann Shunsuke ist Grafikdesigner, er bleibt in Tokio. „Yuko, weißt du, was ich gerade mache? Ich gestalte ein Logo für dieses blöde Popsternchen. Für ein Popsternchen! Und das in einer solchen Situation!“ Ich bin mir sicher, als Shunzuke die Textnachricht schrieb, schüttelte er ungläubig den Kopf.

Der schwarze Humor von Mutsuro
Mutsuro: „Hiermit erkläre ich feierlich, dass es in meiner Nachbarschaft schon bald einen kompletten Stromausfall geben wird. Dann wird es pechschwarz.“
Yuko: „Schwärzer als jetzt kannst DU doch gar nicht mehr werden.“ Mutsuro ist sehr nerdig und ruhig, ist aber gleichzeitig sehr witzig.
Mutsuro: „Man ist gewillt, sich selbst eine Last aufzuerlegen zum Wohle der ganzen Nation.“

Nagi wird wieder gesund
Meine Lieblings-Episode ist die von Nagi. Sie war am Boden zerstört und gleichzeitig so voller Zorn. Und dann, auf wundersame Art, heilte sie ihre Wut auf das Schicksal komplett von ihrem starken Heuschnupfenschub. Ich bemerke, wie das Erdbeben und die andauernde atomare Krise jeden einzelnen von uns zeichnen. Aber wie du dich dann verhältst, hängt eng damit zusammen, an was du glaubst in deinem Leben.

Yukos Tagebuch (I) - "Fukushima strahlt in unseren Köpfen"
Yukos Tagebuch (II) - "Ich frage mich was eigentlich bebt - ich oder der Boden unter mir"

Yuko Ichimura, 35, ist Illustratorin und Werbefilmerin aus Tokio. Für uns zeichnet sie die Veränderungen ihres Leben auf ein Blatt Papier, scannt es ein und schickt es nach Deutschland. Ihre Schilderungen wurden vom Englischen ins Deutsche übersetzt. In eigener Sache bat sie uns mitzuteilen: "Die Situation hier ändert sich dramatisch, Tag für Tag. Keiner weiß, was kommen mag. Deswegen versuche ich, an kleinen Dingen festzuhalten. Um den Deutschen wie auch mir selbst einen Sinn für die Wirklichkeit zu geben. Egal, wie die nahe Zukunft aussehen mag."
Sie freut sich über Nachrichten auf Facebook, sieht sich momentan aber außerstande, darauf zu antworten. Ihr Honorar für's Tagebuch aus Tokio spendet sie dem Roten Kreuz.