Die Blume von der Stange

Früher war sie das Symbol der Schöngeister. Heute steht die Orchidee Phalaenopsis in jedem Supermarkt. Ein Porträt der Geranie des 21. Jahrhunderts.

Die Frage kam in einer langen Minute in der Supermarktschlange auf, als ein Mitarbeiter einen Rollwagen vorbeischob, darauf eine Europalette voll mit diesen Orchideen, die jetzt jeder hat: Phalaenopsis, 9,90 Euro, ein langhalsiges Gewächs, das aussieht wie eine Design-Studie. Komisch, vor ein paar Jahren gab es die noch nirgends, wo kommt die denn auf einmal her? Man scheint sich vor ihr ja gar nicht mehr retten zu können – ähnlich einem Nummer-eins-Hit im Radio, der einem überall entgegendudelt, bloß dudelt die Orchidee sozusagen optisch: in Restaurants, im Yogazentrum, im Einrichtungsmagazin, in Fitnesscentern, im Ikea-Katalog, bei der Mutter zu Hause gleich fünfmal. Wie nur konnte sich eine Pflanze so schnell in unserem Leben breitmachen? Anruf bei der Zentralen Markt- und Preisberichtsstelle für die Land-, Forst- und Ernährungswirtschaft: Der Pressesprecher nennt Phalaenopsis-Verkaufszahlen, bei denen die Jungs von Tokio Hotel sofort tot umfallen müssen. Während in den Neunzigerjahren in Deutschland ungefähr zwei Millionen Phalaenopsis jährlich verkauft wurden, vermark-teten die holländischen »Bloemenveilingen«, Europas größte Blumenbörse, im Jahr 2005 mehr als 29 Millionen Phalaenopsis, knapp 34 Millionen im Jahr 2006 – die genauen Daten liegen aber erst Ende Januar vor. Zwischen zehn und 15 Millionen der Pflanzen gelangen nach Deutschland. Allein zwischen 1999 und 2006 stieg der Phalaenopsis-Verkauf um das Vierfache. Noch nie sei eine Pflanze so durchgestartet, ein Ende der Nachfrage sei gar nicht abzusehen – bis 2008 soll die Produktion sogar noch einmal verdoppelt werden. Den Gummibaum mit Namen Ficus benjamina, früher Chef im deutschen Wohnzimmer, hat die Phalaenopsis schon lang von seinem Thron gestoßen: Seit fünf Jahren ist sie die umsatzstärkste Zimmerpflanze. Schnell wie ein Schnupfenvirus und vehement wie ein GEZ-Fahnder hat sie allen anderen Topfpflanzen den Rang abgelaufen und eine botanische Karriere hingelegt, bei der Rucola oder Bärlauch ganz grün vor Neid werden. Für ihren Popstar-Werdegang scheint die Phalaenopsis wie geschaffen: Sie sieht schon aus wie eine Diva mit ihrem dürren Hals, den fleischigen Blättern und einem Gesicht, als würde eine hübsche Zicke schmollend die Unterlippe nach vorn schieben. Wie es sich für einen ordentlichen Superstar gehört, hat sie auch Probleme mit dem Reisen; der lange Hals macht ihr Ärger, weswegen man ihn beim Transport an Stützstängeln befestigen muss. Die Preisfrage lautet nun: Was sagt die Phalaenopsis über uns, unsere Art zu leben aus? Warum nur lieben wir diese eine Pflanze auf einmal so sehr, dass wir sie wie die Bekloppten kaufen? Weil uns zu Hause jemand Gesellschaft leisten soll, der aussieht, als würde er im Casting eine Runde weiterkommen? Oder weil wir alles schick finden, was schlank ist, und die Phalaenopsis dünn wie ein Size-Zero-Modell, ein Razr-Handy, ein Nano-iPod daherkommt? Oder haftet Orchideen immer noch der Ruf von etwas sehr Exklusivem an – weil sie früher, als es noch keine computergesteuerten Pflanzenzuchtanlagen gab, so gut wie gar nicht zu vermehren, deswegen selten und teuer waren (heute lassen sich viele Phalaenopsis-Arten in so riesigen Mengen produzieren, dass der alte Ausdruck »Orchideenstudiengang« mittlerweile eher auf BWL passen würde). Sicherlich kaufen wir die Phalaenopsis auch deswegen so gern, weil sie so gut zu unseren modernen, versachlichten Einrichtungsstilen passt, wo ja alles designt sein muss und sie sich einfügt wie mit einem lockeren Pinselstrich hingemalt. Dazu haben sich auch unsere Vorstellungen von Ferne, von einer exklusiven Reise verändert, die uns heute nicht mehr erst an einen wilden Urwald (Ficus) denken lässt, sondern ans schicke Asien. Am Ende punktet die Phalaenopsis auch mit der umwerfenden Tatsache, dass sie kaum Wasser und keine Pflege braucht, aber Monate am Leben bleibt – also wie geschaffen scheint für unsere modernen Lebensläufe, in denen Zeit der größte Luxus ist und man Schwierigkeiten hat, feste Bindungen einzugehen. Da benimmt sich die Phalaenopsis wie ein guter Kumpel, den man wochenlang nicht anruft und der trotzdem nicht sauer ist. Man sieht, die Phalaenopsis spiegelt viele gesellschaftliche Veränderungen des letzten Jahrzehnts wieder: Computerisierung der Produktionsmög-lichkeiten, Wandel von Schönheitsidealen, Wohnkultur und Reiseverhalten, verändertes Zeit- und Beziehungsmanagement, Einfluss von TV-Sendungen. Aber, arme Phalaenopsis! Wie bei jedem Shootingstar ist das Ende schon in ihr angelegt. Wahrscheinlich nervt uns in ein paar Jahren, was wir jetzt an der Phalaenopsis lieben: Erinnert nicht eine Blume, die am Stock steht, an Alter und Gebrechen? Sieht der Blumenkopf bei genauerer Betrachtung nicht aus wie eine gefährliche Hautkrankheit? Und was sollen wir von jemandem halten, der problemlos auf Nahrung und Wasser verzichtet, während wir mit den Kohlehydraten kämpfen? Dann ereilt die Schöne das Schicksal vieler vom Ausverkauf verbrann-ter Trendgeschöpfe, deren großem Erfolg die Ernüchterung folgt – wenn sich die Anbeter naserümpfend abwenden und jene raue Zeit beginnt, in der Popbands noch schnell ihre letzten CD-Posten im Drogeriemarkt verramschen. Der erste Schritt in diese Richtung ist bereits getan: Schon heute werden die meisten Phalaenopsis nicht mehr im Blumenladen oder auf dem Viktualienmarkt in München verkauft. Sondern da, wo die Schönheit einer Orchidee nichts anderes als verblassen kann: im Baumarkt.