Untergänge sind Lieblingsthema des deutschen Feuilletons. Irgendwas geht immer unter, mal Böses (Hitler, DDR, Kapitalismus), mal Gutes (Freiheit, Disziplin, Dativ). Kontrovers diskutierte Untergänge führen oft zur Debatte, bisweilen gar zum Glaubenskrieg wie jenem über die Zukunft des bedruckten Papiers. Aufseiten von Zeitung, Zeitschrift, Buch kämpfen die Papierkrieger. Papier ist die Standarte des Bildungsbürgertums; Texte, die nicht auf dünnen Holzfaserblättern aufgebracht sind, gelten als zweitklassig. Fakt ist: Das Bedrucken von Papier ist noch immer ein großer Markt. Aber er schrumpft stetig.
Gegenüber sind die Onlinepartisanen aufmarschiert. Sie verweisen auf steigende Klickraten, auf den anschwellenden Strom der Reklamemilliarden, auf ganz neue Formen des Mitmachens. Das Credo der Onliner: Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Papier marginalisiert ist; aber der Trend ist unumkehrbar. Die Debatte wird überwiegend emotional geführt, je nachdem, wer von welchem Medium profitiert. Wer noch Bleisatz erlebte und gegen Ganzseitenumbruch streikte, sieht sich als Nachlassverwalter Gutenbergs. Redakteure alter Schule haben Ruhm und Wohlstand allein dem Papier zu verdanken. Diese nostalgisch erhabene Medien-FDP, die Onlineangebote als Fast-Food-Filiale ihres Gourmetblattes betrachtet, sieht sich einer wachsenden Schar websozialisierter Überlebenskünstler gegenüber, denen die Segnungen einer lebenslang sicheren Vollzeitstelle mit Betriebsrente auf ewig verwehrt bleibt. Wer sich mit freien Jobs durchschlägt und als einzige Kontinuität den Verfall von Honoraren erlebt, weiß aus Erfahrung: Man kann lesen und arbeiten, ohne für bedrucktes Papier zu bezahlen. Das Netz ist für Menschen unter 30 eine Selbstverständlichkeit, kostenlos und schnell.
Wo aber generationsspezifische und emotionsgeladene Vorteilserwägungen die Debatte bestimmen, ist es bis zum Aneinandervorbeireden nicht weit. Die einen betonen die untrennbare Verbindung zwischen Inhalt und Papier, die anderen preisen die Vorzüge von Technik. Fest steht nur: Weder Papier noch Bildschirm haben ein Monopol auf gute Geschichten.
Um Emotionen bereinigt, reduziert sich die Untergangsdebatte auf nur mehr zwei Faktoren. Erstens: Wo sieht der Kunde Nutzen hinsichtlich Aktualität, Praktikabilität, Informationstiefe, Glaubwürdigkeit und Status? Zweitens: Wie können Medienkonzerne diese Nutzenerwartungen bedienen und zugleich Kosten sparen bei Redaktion, Herstellung, Vertrieb, Händlern?
Über Jahrhunderte hat sich Papier hartnäckig als Informationsträger behauptet. Die Kunden nehmen es mit ins Bett oder auf die Toilette, reißen Trouvaillen aus, beweisen Status an Kios-ken, in Cafés und Lufthansa-Lounges.
Die Buchlesegeräte Kindle und E-Book allerdings markieren den Anfang vom Ende des Massenmediums Papier, so wie in den Achtzigern ziegelsteingroße Walkmänner den relativen Untergang der Musikindustrie einläuteten. Der nächste Schritt: das elektronische Papier. In zahlreichen Labors wird daran getüftelt. Sobald eine massentaugliche Folie erfunden ist, die die Vorzüge einer Zeitungsseite mit Aktualität und Interaktivität des Internets verknüpft, wird das Papier seiner exklusiven Vorteile beraubt. Via Handy bespielt der Nutzer aktuell und individuell seine Folie, die er wie ein Taschentuch bei sich trägt – mit dem Sportteil der Boulevardzeitung, dem Lokalteil des Heimatblattes, den Kommentaren der Süddeutschen.
Die Entwicklung von der Vinylschallplatte samt ihres zentnerschweren Abspielinstrumentariums bis hin zum iPod gibt das Drehbuch vor: Der physische Datenträger (Papier/Vinyl) mit seiner dahinterliegenden Produktions- und Distributionskette ist chancenlos. Wozu Baumplantagen, Papierfabriken, Druckereien, Kioske und der ganze Transport, wenn sich Inhalte nutzerfreundlich wie preisgünstig digital verbreiten lassen?
Dennoch wird das Papier nicht untergehen, sondern als Status-symbol der höheren Stände weiterbestehen. Ein großer deutscher Verlag hat bereits Szenarien für das Wochenmagazin des Jahres 2020 entwickeln lassen. Fazit: Das Blatt der Zukunft hat maximal 100 Seiten, exzellente Autoren und exklusive Beiträge, ist nahezu anzeigenfrei und kostet um die 15 Euro.
Hajo Schumacher, 45, ist Herausgeber der Onlinezeitschrift »V.i.S.d.P.« und schreibt u. a. als Achim Achilles Kolumnen bei »Spiegel Online«.
Illustration: Christoph Niemann