»Fabel, die; (...) meist kurze, lehrhafte Erzählung in Vers o. Prosa, in der Tiere, seltener auch Pflanzen, nach menschlichen Verhaltensweisen handeln u. die meist mit einer religiösen, moralischen od. praktischen Belehrung, einer allgemein gültigen Sentenz o.ä. endet ...«
»Duden: Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in 6 Bänden«, Bd. Cl-F
Eines Tages nun saß ein Schwarzer Schnegel auf einem Blatte, als ein zweiter Schwarzer Schnegel des Weges kam. Der erste, auf seinem Blatte sitzend, hatte das Herannahen des zweiten wohl schon vor geraumer Zeit, als die Sonne noch tief gestanden hatte, bemerkt, lenkte aber erst nun, da der zweite in Rufweite war, seine Tentakel in dessen Richtung, wie es die Höflichkeit gebot.
»Ah, Väterchen, wacker unterwegs auf dem Weg zur Wiese, um dort vom köstlichen Klee zu kosten?«, fragte der erste Schwarze Schnegel.
»Ei nun«, antwortete der zweite, »es mag wohl mein Plan sein. Und Ihr Gevatter, harret der Dinge, die da kommen?«
»Nun ja«, sagte der erste schüchtern, weil er fürchtete, der zweite könnte ein gar spottlustiger Geselle sein, »ein Stelldichein habe ich vereinbart mit einer liebreizenden Dame, deren Auftauchen am Horizont ich ungeduldig erwarte.«
»Aber Väterchen«, sagte der zweite Schwarze Schnegel, »wenn nun die Dame eures Herzens ihr bevorstehendes Eintreffen bereits angezeigt hat, wäre es dann nicht an der Zeit, euren Paarungsstängel hurtig auszurollen?«
Der erste Schwarze Schnegel errötete und sprach: »Nun möchte ich eine Dame nicht in Verlegenheit bringen, indem ich ihr bereits bei meinem Eintreffen meinen Lustmuskel in ganzer Länge präsentiere, sie könnte es als Anmaßung, die Gestaltung unseres gemeinsamen Nachmittags betreffend, empfinden.«
Der zweite, der eine List im Sinne hat, sprach mit weltgewandter Gelehrtheit, zur Tarnung seiner Tücke: »Nun, lasst euch geraten sein, den Hosenrochen beizeiten auszurollen, da die Damen, so er gebraucht und von ihnen erwünscht wird, leicht in Ungeduld geraten und sich, während Ihr noch beim Ausrollen seid, vielleicht einem anderen zuwenden.«
In diesem Moment tauchte ein weiblicher Schwarzer Schnegel, mithin eine Schnegelin, am Horizont auf.
»Oh, sie naht!«, rief der erste Schwarze Schnegel, den der zweite, wie es seine Absicht gewesen war, nicht nur in Verlegenheit, sondern in Entscheidungsnot gebracht hatte. »Was soll ich tun?«
»Rollt aus!«, rief der Zweite, voll gieriger Heimtücke. »Rollt aus die Himmelslanze, solange noch Zeit ist! Bedenkt, Ihr braucht volle zwanzig Minuten!«
Ei, das wurde ein eiliges Ausrollen. Der Erste genierte sich gar sehr, der Zweite aber sah weltmännisch darüber hinweg, alsda der Vorgang ja natürlich war und auf seinem Ratschluss beruhte. Als nun die schwarze Schnegelin binnen einer knappen halben Stunde herannahte und das ausgerollte Fortpflanzungorgan des ersten, mit dem sie verabredet war, bemerkte, sprach sie: »Was sehen meine empörten Tentakel? Vorbereitendes Ausrollen in beischläferischer Absicht? Unverschämter Patron, zum Plaudern bin ich gekommen, nicht zum Paaren, hinfort, hinfort!«
Und da es dem ersten schwarzen Schnegel nicht gelang, zügig einzurollen, biss sie ihm, wie im Schneckenreiche üblich, den Penis ab, um ihn mit dem zweiten schwarzen Schnegel bei Kerzenlicht zu verzehren. Dieser, triumphierend ob seiner gelungenen List, sprach zum ersten schwarzen Schnegel, der verdrossen war ob seiner Niederlage: »Väterchen, so lernt daraus: Manche schon hat sich getrollt, weil einer zu früh ausgerollt.«
»Ja ja«, sprach der erste schwarze Schnegel, »und fürderhin, ich bitt' euch, nennt mich Mütterchen.«
Illustration: Eugenia Loli