Aus dem klassischen Datingalter bin ich zwar raus und die Frau meines Lebens habe ich schon gefunden. Trotzdem kommt ein Thema immer wieder auf, wenn ich abends mit Freunden unterwegs bin: »Woher weißt du eigentlich, dass dir eine Frau gefällt, wenn du nicht siehst, ob sie braune oder blonde Haare hat, schiefe Zähne oder abstehende Ohren?« Ich sage dann immer: »Sie gefällt mir, wenn sie ein gutes Herz hat.«
Das klingt im ersten Moment arg nach Klischee und Der kleine Prinz. Für mich stimmt es aber: Ich kann gute Herzen sehen. Eine Frau ist für mich attraktiv, wenn sie mich mit ihrer Herzenswärme anstrahlt. Dieses Leuchten nehme ich nicht mit den Augen wahr, sondern mit den Ohren, der Nase, der Haut. Und wenn ich Glück habe, irgendwann mit dem ganzen Körper – nämlich dann, wenn es anfängt, zwischen uns zu knistern. Wenn sich diese Schwingungen ausbreiten, die man im Kopf, in der Brust und im Bauch spürt, für die es aber keine wirklich passenden Worte gibt.
Ich muss nicht weiter ausführen, warum Verlieben auf den ersten Blick bei mir nicht drin ist. Aber auch für mich ist der erste Kontakt mit einem Menschen beim Kennenlernen sehr wichtig. Wahrscheinlich noch viel wichtiger und intensiver als bei Menschen, die sich erst mal mit den Augen erkunden. Obwohl ich blind bin, habe ich natürlich eine Vorstellung davon, welche Äußerlichkeiten ich attraktiv finde und welche ganz und gar nicht. Mir gefallen zum Beispiel grün-blaue Augen, kleine Ohren und fein geschnittene Nasen. Aber diese Merkmale sind für mich erstmal nicht sichtbar. Deshalb habe ich mir eine Art intuitiver, nicht-visueller Wahrnehmung antrainiert, mit der ich Menschen, in dem Fall Frauen, schnell gut einschätzen kann. Ich habe so zwar auch ein paar Enttäuschungen erlebt, weil die Dame dann doch irgendwie anders war als erwartet, aber wem passiert das auf der Suche nach der Liebe nicht?
Ich bilde mir dennoch ein, ein besonderes Gespür dafür zu haben, wer mir gegenübersteht. Gerade weil ich diese Person nicht sehe und deshalb nicht von unwichtigen Details abgelenkt oder verunsichert werde. Entscheidend ist zum Beispiel, wie sich eine Stimme anfühlt, wenn ich sie zum ersten Mal höre. Und dann, einige Zeit später natürlich, ist es für mich wichtig, die Hand meines (potentiellen) Dates zu berühren. Nur so kann ich begreifen, um was für eine Person es sich handelt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Dabei finde ich keinen speziellen Typ von Stimme oder von Haut besonders anziehend. Es geht um den Gesamteindruck, den ich mir mit all meinen Sinnen verschaffe.
Der kann allerdings auch täuschen. Ich erinnere mich noch gut daran, wie mein intuitives Frauenradar zum ersten Mal versagte. Ich hatte auf einer Abifeier eine sehr nette Frau kennengelernt. Zumindest klang sie sehr nett. Wir hatten uns unterhalten und waren uns auch näher gekommen. Als wir die Party verließen, fragte sie mich, wo mein Auto stünde. Ich antwortete, dass ich gar kein Auto und auch keinen Führerschein hätte, weil ich fast blind sei – und sie war verschwunden. Im Schummerlicht der Party war ihr meine Behinderung offenbar nicht aufgefallen. Ein mieses Gefühl, so stehen gelassen zu werden. Andererseits blieb ich so vor der intensiveren Bekanntschaft mit einer oberflächlichen Person verschont.
Manche Stimme klingt für mich blond, manche brünett oder schwarz
Mir ist schon klar, dass meine Art des Kennenlernens vom Gegenüber ein besonderes Maß an Offenheit verlangt. Es ist deshalb keine Überraschung, dass ich Frauen eher nicht auf großen Partys oder im Club kennen lerne, sondern im Freundeskreis. Und häufig sind es auch die Frauen, die für eine erste Kontaktaufnahme auf mich zukommen. Sind die ersten Worte dann gewechselt, bin ich in meinem Element. Denn die neue Stimme erzeugt Bilder vor meinem inneren Auge. Manche Stimme klingt für mich zum Beispiel blond, manche brünett oder schwarz. Es sind feine Unterschiede, aber ich nehme sie noch völlig wertfrei wahr – und manchmal stimmen die Unterschiede ja auch nicht mit der Realität überein. Attraktiv wird die Stimme erst durch die Wahl der Worte und deren Klang. Es gibt einfach Stimmen, die mich unglaublich anziehen. Ihren Wohlklang kann ich besonders bei den leisen Tönen hören, wenn sich das Timbre der Stimme entfalten kann und, so nenne ich das, die wahren Worte gesprochen werden – also das Gesagte mit dem Klang der Stimme übereinstimmt. Stimme kann auch brutal abstoßen. Hysterisches Lachen oder jaulende, schrille Obertöne der weiblichen Stimmbreite: Da bin ich weg.
Der bezaubernste Ton braucht aber auch Nachhall in den Worten. Ich möchte sie verstehen, und sie sollte verstehen, wer ich bin und was ich suche. Das ist auf die Schnelle gar nicht so einfach. Denn zwischen den Worten schwebt ja immer eine weitere Ebene. Ich habe gelernt, sehr genau hinzuhören und ein intensives Gefühl dafür zu entwickeln, ob sie wirklich interessiert ist oder es nur mal schick findet, sich mit einem Blinden zu unterhalten. Und die Stimme verrät noch so viel mehr: Fühlt sie sich wohl in meiner Gegenwart? Ist ihr Job wirklich so toll? War der letzte Mann echt so schlimm und ist tatsächlich alles schon überwunden?
Wenn ein Gespräch gut fließt, entfaltet sich für mich eine Spannung. Das Band zwischen meiner Gesprächspartnerin und mir wird enger und es entstehen öfter gemeinsame Pausen, deren Stille sich angenehm anfühlt. Ihr Duft, der mich (im Idealfall) schon seit längerem fasziniert hat, wird mir bewusster, und intuitiv mache ich den ersten Schritt. Das ist der Moment, in dem sich die Spannung in einer ersten Berührung auflöst (natürlich nur, wenn sie mir mit Worten oder einer Berührung klar signalisiert hat, dass sie das möchte), und auch der Zeitpunkt, an dem ich weiß, wie es weitergeht. Die Hand, der Unterarm oder die Schulter: Aus dem ersten Fingerlesen entsteht für mich ein Gesamtbild. Haut kann gespannt oder schlaff sein, weich und duftend (oder auch nicht), Finger filigran oder klobig.
Womöglich liegt es an diesen ersten intensiven Eindrücken, dass ich selbstbewusst sagen kann: Ich hatte bislang Glück mit den Frauen. Denn in den meisten Fällen konnte ich ihr warmes Leuchten durch all die kleinen Unwichtigkeiten hindurch von Beginn an erkennen. So wusste ich auch, dass meine Frau die Richtige ist: Sie hat für mich am stärksten gestrahlt und tut das noch immer, jeden Tag. Auch wenn andere bei der Formulierung an Rosamunde Pilcher denken mögen – ist einfach so.
In der nächsten Woche: Kann ich blind und trotzdem ein guter Vater sein?