Fotografen sprechen vom »Wow-Effekt«, wenn sie einen Menschen genau in dem Moment ablichten, nachdem sie oder er die Augen spontan geöffnet hat. Die Gesichtszüge sind dann entspannt und frisch, die Augen strahlen. Manchmal, wenn ich alleine bin, probiere ich das auch aus: Augen zu, Augen auf, leichtes Lächeln. Ich versuche mir dann vorzustellen, wie mein Wow-Gesicht aussieht: Entspannt? Fröhlich? Vielleicht sogar ganz gut? Ich meine, erahnen zu können, wann ich vorteilhaft rüberkomme und welchen Ausdruck ich lieber sein lassen sollte. Aber ich weiß es eben nicht sicher.
Wenn ich ehrlich bin, wusste ich das nie wirklich zuverlässig, auch nicht als Kind, als ich noch besser sah. Aber damals war das auch nicht so wichtig. Da habe ich in die Steckbrief-Bücher meiner Mitschüler immer »blaue Augen« und »dunkelblondes Haar« gekritzelt, und damit war ich lange zufrieden. Dann kam die fiese Pubertät und ich musste feststellen, dass ich keiner von denen war, die von den Klassenkameradinnen kleine Briefchen mit Ankreuzfeldern »Ja«, »Nein«, »Vielleicht« zugesteckt bekamen. Und natürlich fragte ich mich irgendwann, woran das lag. War ich den Mädchen nicht schön genug?
Das Problem: Ich konnte das nur schwer überprüfen. Denn weder wusste ich genau, wie ich selbst aussah – noch wie die anderen Jungs in der Klasse, um vergleichen zu können. Ich erkannte damals, also vor meinem Restsehverlust, zwar immerhin meine Kopfform und den Haaransatz, aber die entscheidenden Details sah ich einfach nicht. Das ist übrigens bis heute so: Ich habe noch nie meine eigenen Augen gesehen oder mein Profil. Ich habe auch keine Ahnung, wie ich im Anzug wirke oder beim Sport oder beim Tanzen. Das verunsichert mich als erwachsener Mann immer wieder – aber als Jugendlicher war es manchmal kaum auszuhalten.
Ich habe damals alle Lampen im Haus vor dem Badezimmerspiegel aufgebaut, in der Hoffnung so wenigstens ein bisschen was von mir sehen zu können. Half leider nicht. Ich habe Fotos von mir akribisch mit einer beleuchteten Lupe untersucht, aber auch so habe ich mich nur in Umrissen erkennen können. Natürlich habe ich versucht, mein Gesicht zu erfühlen, um mir so ein inneres Bild zu machen. Aber das ist nicht dasselbe. Und es ist auch nicht dasselbe, wenn du dich auf die Beschreibungen oder das Urteil anderer Menschen verlassen musst. »Habe ich eine große Nase?« – »Geht.« »Ist der Abstand meiner Augen eher weit oder eher eng?« – »Eher normal.« Aha, normal, und wie sieht das jetzt genau aus?
Diese Verunsicherung begleitete mich weit über die Teenagerzeit hinaus. Vor allem an der Uni hatte ich oft das Gefühl, für die anderen unsichtbar zu sein. Während sich meine Kommilitonen darüber unterhielten, wen sie wann wo gesehen hatten, stand ich meist ziemlich unbeteiligt daneben. Dabei wäre ich so gerne mittendrin in den Gesprächen gewesen, ich hatte ja eine Meinung und was zu sagen. Aber offenbar sahen mich viele einfach nicht. Wenn ich jetzt daran denke, kommen alte Zweifel und Wünsche wieder hoch. »Um gesehen zu werden, muss man eben selbst sehen«, »Bindungen brauchen Blicke«: Solche Gedanken haben mich verfolgt. Heute weiß ich, dass das nicht stimmt. Doch damals dauerte es, ehe ich begriff, dass ich die Kontrolle über mein Erscheinungsbild gewinnen musste, um mich nicht mehr vom Urteil anderer abhängig zu machen. Und das ging nur, indem ich anfing, mich selbst ohne Augen wahrzunehmen.
Wenn ich mir selbst beim Sprechen zuhöre, kann ich erkennen, wie es heute bei mir so aussieht
Dazu habe ich mich nicht auf einen esoterischen Trip ins Innere oder auf eine Achtsamkeitsreise nach Indien begeben. Die Antwort lag mir auf der Zunge: Meine Stimme ist zu meinem ganz persönlichen Spiegel geworden. Wenn ich mir selbst beim Sprechen zuhöre, kann ich erkennen, wie es heute bei mir so aussieht: Schwingt ein freudiger Unterton mit oder sind die S-Laute mal wieder zischelnd, weil ich übermüdet bin? Sinkt die Melodie der Stimme traurig Richtung Brustbein ab oder ist es doch eher ein nachdenklicher Nachklang? In der Stimme verbergen sich erstaunliche Geheimnisse über unsere Persönlichkeit und aktuelle Verfassung. Dabei lausche ich nicht jedem meiner Worte, aber ich habe in Gesprächen, Telefonaten und bei Begegnungen immer ein Ohr auf mich selbst. So kann ich mich selbst als attraktiv oder auch mal als hässlich empfinden.
Und noch etwas ist für die blinde Selbstwahrnehmung wichtig: das Körpergefühl. Ich spüre ja, ob sich meine Haut eher rau oder weich anfühlt, und ob über meinen Bauchmuskeln Speck gewachsen ist. Außerdem habe ich eine besonders ausgeprägte Form des inneren Wohlgefallens. Wenn die Sonne zum ersten Mal im Jahr das Gesicht kitzelt oder wenn der Wind im Sommer durch die Haare geht, fühle ich mich einfach gut. Ich würde sogar sagen: Dann fühle ich mich schön.
Natürlich kann ich meine Frisur ertasten und weiß dann, ob die Haare einigermaßen liegen oder ob ich eher eine Mütze anziehen sollte. Beim Klamottenkauf achte ich darauf, dass sich die meisten meiner Sachen unfallfrei miteinander kombinieren lassen. Und es gibt Stoffe, die fühlen sich einfach so gut an, dass sie an mir gut aussehen müssen! Wenn ich unsicher bin, frage ich eben meine Frau oder Freunde. Und worüber ich mich natürlich auch freue, sind dezente Hinweise, falls mir nach dem Mittagessen noch Petersilie zwischen den Zähnen klemmt oder ich mir beim Nachdenken geistesabwesend mit dem Edding eine Kriegsbemalung zugelegt habe.
Ganz ohne das Feedback anderer komme ich also noch immer nicht aus, aber die Panik der Teenie- und Unizeit hat sich glücklicherweise gelegt. Und ich habe gelernt, am Unterton zu erkennen, ob jemand nur höflich zu mir ist, wenn er sagt »Tolles Hemd!«, oder ob er es ernst meint. Mittlerweile ist mir so ein ehrliches Urteil sogar tausendmal lieber als ein flüchtiger Blick in den Spiegel.