Die Freiflächen und Hauswände folgen wie gewohnt. Nach der zweiten Absenkung des Fußgängerweges entspanne ich mich etwas, aus den Einfahrten ist heute weder ein Auto noch ein Fahrrad geschossen gekommen. Ich lausche dem regelmäßigen Pendeln und Klatschen meines Stockes gegen die Außenfassaden und lächle in mich hinein: Der Schall ist schneller als das Licht, und das Gehör damit ein ganz hervorragender Sinn – wenn man ihn richtig zu nutzen weiß. Noch ein paar Schritte, und ich kann von der inneren Leitlinie der Häuserzeile an die äußere der Bordsteinkante wechseln. Das Blindenleitsystem fängt die pendelnde Rollspitze meines Langstocks ein und ich biege in Richtung Ampel ab.
So beginnt mein täglicher Arbeitsweg, ich kenne jede Veränderung des Bodenbelages, jeden Mauervorsprung, ich weiß, wie viele Schritte ich brauche, um eine Straße zu überqueren und wo ich mich auf das Blindenleitsystem mit seinen Rillen und Noppen und akustischen Ampelsignalen verlassen kann. Trotzdem ist dieser Weg jeden Morgen eine neue Herausforderung, denn die Welt steht ja leider nicht still, wenn ich das Haus verlasse. Wo der Bordstein gestern noch frei war, kann heute schon ein Werbeschild oder Roller stehen. Oder ein Fußgänger besonders langsam schlurfen, weil er auf sein Smartphone starrt. Oder ein Radfahrer auf den Gehweg ausweichen, weil der Radweg zugeparkt ist (im Übrigen eine ärgerliche und gefährliche Kettenreaktion für alle Beteiligten). Solche Hindernisse sind für mich besonders problematisch, denn ich kann sie im Gegensatz zu Autos – die auf der Straße bleiben – nicht hören.
So toll ich Elektromobilität aus Umweltsicht finde: Wie soll ich sie als blinder Mensch wahrnehmen?
Schon lange ist es eine meiner großen Ängste, dass ich mich irgendwann einmal mit meinem Blindenlangstock in den Speichen eines Radfahrers verfange und das für uns beide übel ausgeht. Doch seit ein paar Monaten bereitet mir eine neue Spezies von Verkehrsteilnehmern fast noch größere Sorgen: die Elektrokleinstfahrzeuge, also E-Tretroller, Segways und E-Skateboards. Glücklicherweise hat die Politik jüngst beschlossen, dass diese stillen und damit für mich unsichtbaren Fahrzeuge nicht auf Gehwegen fahren dürfen, wie ursprünglich geplant. Denn so toll ich Elektromobilität aus Umweltsicht finde: Wie soll ich sie als blinder Mensch wahrnehmen? Deutschland folgt mit diesem Beschluss dem Vorbild Frankreichs, wo Elektrokleinstfahrzeuge ab September auch nur noch auf Radwegen und auf der Straße zugelassen sind. Die Erfahrung hat gezeigt, dass es sonst zu vielen Unfällen und gefährlichen Situationen kommt.
Natürlich weiß ich, wo die Vorteile dieser Fortbewegungsart liegen. Sie ist umweltschonend, individuell und kann dem Verkehrskollaps in Großstädten entgegenwirken. Aber was bringt so eine Neuentwicklung, wenn sie an anderer Stelle Probleme schafft, indem sie vor allem jene gefährdet, die besonderer Rücksicht bedürfen, also Kinder, ältere und behinderte Menschen? Bei mir kommt noch hinzu: Ich habe sehr lange gebraucht, um mir mit meinem Blindenlangstock Selbstständigkeit und Orientierungsfähigkeit im Straßenverkehr zu erarbeiten. Und ich habe Angst, dass davon nun wieder etwas verloren geht. Dass ich in gewisser Weise wieder neu anfangen muss – so wie mit 18, als ich vom einen auf den anderen Tag fast nichts mehr sah.
Heute würde ich ohne meinen Stock nicht mehr aus dem Haus gehen. Der Stock ist wie ein verlängerter Teil meines Körpers, er gehört zu mir. Doch als junger Mensch kostete es mich eine riesige Überwindung, dieses sperrige Teil in die Hand zu nehmen und damit allen um ich herum zu signalisieren: Ich bin blind. Obwohl die Wege ohne Stock gefährlich und anstrengend waren, habe ich ihn erst als Gefährten akzeptiert, als es ohne gar nicht mehr ging. Damals verlor ich meine Freunde auf dem Rückweg von einem großen Open-Air in der Bonner Rheinaue. Zwischen all den Betrunkenen blieb mir nichts anderes übrig, als mich an den Straßenrand zu setzen und stundenlang im Regen zu warten, bis mich jemand zur nächsten Bahnhaltestelle brachte. Diese Abhängigkeit wollte ich nie wieder erleben.
Manchmal dauert es etwas länger, bis ich angekommen bin - aber ich bin nie mehr verloren gegangen
Also nahm ich den Stock in die Hand und lernte, Straßen taktil und akustisch zu lesen. Die richtige Pendeltechnik ist der erste Schritt. Damit kann ich mir innere Leitlinien an Häuserfronten und äußere Leitlinien an Bordsteinen oder Grünstreifen erschließen. Dann die Königsdisziplin: Straßenüberquerungen anhand von Leitsystemen, akustischen Ampeln und dem quer fließenden Verkehr sicher hinzubekommen. Mittlerweile komme ich mit meinem Stock überall hin, ich kann Dienstreisen nach Berlin alleine meistern, egal ob mit der Bahn oder mit dem Flugzeug; manchmal dauert es etwas länger, bis ich im Tagungshotel oder am verabredeten Restaurant angekommen bin, aber ich bin nie mehr verloren gegangen.
Ein Hindernis gibt es allerdings, für das niemand etwas kann, weder Städteplaner noch andere Verkehrsteilnehmer: Schnee. Schnee ist zwar ein wunderbarer akustischer Filter, der alle Geräusche etwas milder und die Menschen etwas bedächtiger macht. Doch leider verwischt er auch alle taktilen Informationen, die der Boden zu bieten hat, also Kantsteine, Pflastertrennungen zwischen Fußgänger- und Radweg und natürlich auch die Blindenleitsysteme. Meist bleibt mir dann nur, besonders langsam und vorsichtig zu machen. Aber wenn man ehrlich ist, ist ein bisschen mehr Bedächtig- und Gelassenheit ohnehin das beste Mittel, um sicher von einem Ort an den anderen zu kommen. Egal, ob man sieht oder nicht.