Ich lese mit den Ohren

Unser blinder Kolumnist erklärt, wie man als Blinder in der Arbeitswelt zurechtkommt und welche App sein Leben revolutioniert hat.

Foto: Eveln Dragan

Während ich diesen Text tippe, sitze ich an meinem Schreibtisch und schaue auf den Bildschirm meines Computers. Aber ich sehe nichts darauf, keinen einzigen Buchstaben. Nur schwarz. Trotzdem reiht sich ein Wort an das nächste, und allmählich füllen sich die Zeilen. Ich weiß, dass es bald Zeit für einen Absatz ist. Das habe ich im Gefühl – und vor allem im Ohr. Denn jedes getippte Wort, jedes Satzzeichen kommt als akustisches Signal über meinen Kopfhörer zurück zu mir, und mit einfachen Tastaturbefehlen kann ich es ändern oder umformatieren. Wenn dieser Absatz fertig ist, lasse ich ihn mir über den Screenreader, so heißt das praktische Programm, mit dem ich gerade arbeite, noch einmal komplett vorlesen. So kann ich überprüfen, ob die Worte in ihrer Reihenfolge richtig klingen – und nicht so, als hätte sie ein Grundschüler geschrieben.

Klar, mal rutscht mir ein Komma durch oder ein Rechtschreibfehler, deshalb lasse ich bei wichtigen, förmlichen Schreiben immer noch mal meine Frau über den Text gucken. Oder im Fall dieser Kolumne jemanden aus der Redaktion. Doch damit kann ich sehr gut leben, das ist tausendmal besser als nicht schreiben zu können. Und das könnte ich nicht ohne Programme wie den Screenreader oder barrierefreie Webseiten und Apps, auf denen ich mich blind bewegen kann. Die digitale Barrierefreiheit ist mein Tor zur Welt. Ohne sie und das barrierefreie Internet könnte ich als blinder Mensch nicht in meinem Job als Referatsleiter in einem Ministerium arbeiten, ich könnte mich nicht so unkompliziert mit meinen Freunden und meiner Familie verabreden oder mich schnell darüber informieren, wie hoch der BVB gewonnen hat.

Die Digitalisierung hat für viele Menschen mit Behinderungen neue Chancen geschaffen, und für uns Blinde gilt das besonders – sofern die Programmierer an barrierefreies Design gedacht haben. Sie nehmen diese Feinheiten beim Surfen vermutlich gar nicht wahr, aber für einen Sehbehinderten sind sie so entscheidend wie eine Treppenrampe für einen Rollstuhlfahrer. Für mich muss im Internet eine gewisse Ordnung und Struktur herrschen, dann kann ich mir die Informationen und Elemente auslesen lassen (und muss trotzdem hoffen, dass mein Screenreader nichts übersieht). Ich sehe, lese und navigiere also mit meinem Gehör – und Querlesen mit den Ohren ist gar nicht so einfach. Aber es geht und mit ein bisschen Übung sogar ziemlich gut.

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Das Grundprinzip von barrierefreien Webseiten oder Apps ist dabei immer gleich: Sie ermöglichen eine barrierefreie Kommunikation zwischen Sehenden und Blinden. Der Sehende kann die Information lesen, der Blinde kann sie via Screenreader hören (oder per Finger auf der Braillezeile lesen, das ist mir aber zu langsam, ich nutze lieber akustische Signale via Kopfhörer). So kann ich mithilfe von digitaler Fußgängernavigation pünktlich beim Außentermin ankommen. Oder mir aus der weltweiten Web-Community in wenigen Sekunden einen sehenden Helfer aufs Smartphone holen, der mir Straßenschilder für meinen Weg oder in der Mittagspause die Preise an der heißen Theke vorliest. Diese App heißt »Bemyeyes« und hat mein Leben echt revolutioniert.

Kommt der blinde Mitarbeiter bei Dienstreisen auch dort an, wo er hin soll?

Vor ein paar Jahren zum Beispiel musste ich für ein Bewerbungsgespräch in ein fremdes Gebäude. Der Eingang war mit irgendwelchen hölzernen Palisaden »verziert«. Für Sehende mag das interessante Kunst am Bau sein. Für mich und meinen Blindenlangstock war dieses Gerüst eine Baustelle ohne Eingang, also ging ich weiter. Und weiter. Ich irrte Ewigkeiten um das Gebäude herum, um den Eingang zu finden. Irgendwann half mir ein freundlicher Passant, aber zum Bewerbungsgespräch kam ich natürlich zu spät. Hätte ich eine App wie »Bemyeyes« damals schon gehabt, wäre die Suche mithilfe der per Kamera zugeschalteten Augen in weniger als einer Minute beendet gewesen.

Dass ich an jenem Tag nicht pünktlich zu dem Gespräch erschien, könnte den Arbeitgeber (der dann nicht meiner wurde) insgeheim in seinen Annahmen bestärkt haben. Denn seit meinem Einstieg in die Berufswelt vor rund zehn Jahren höre immer dieselben Zweifel durchklingen, auch wenn sie natürlich kein Personalverantwortlicher laut formulieren würde: Kann ein Blinder überhaupt am PC arbeiten, und wenn ja: Wie? Kommt der blinde Mitarbeiter bei Dienstreisen auch dort an, wo er hin soll? Was ist mit der Performance vor Kunden und anderen Externen? Ich habe mir oft gewünscht, dass mir diese Fragen direkt gestellt werden und nicht nur still gedacht. Denn dann könnte ich antworten: Natürlich kann ich! Ich kann zwar nicht sehen, aber ich kann denken, strategisch planen, kommunizieren, umsetzen – normal arbeiten eben.

Ja, ich muss meinen Kopf oft ein bisschen mehr anstrengen als Menschen, die sehen können. Ich muss Dinge besonders schnell erfassen, abspeichern und in für mich nachvollziehbare Strukturen ordnen. Aber das geht nicht ohne volle Konzentration, und welcher Arbeitgeber würde einen konzentrierten Angestellten nicht schätzen? Dieses strukturierte Arbeiten und das viele Gedächtnistraining hat für die Kolleginnen und Kollegen ja auch ganz praktische Vorteile: Ich vergesse nie eine Zahl oder einen Weg, den ich einmal gegangen bin, und ich kenne alle Tastenkombinationen für Windows, die viel schneller und dazu noch bequemer sind als das Rumgeklicke mit der Maus.

Leider glaubt nicht jeder an diese Fähigkeiten. Ich erinnere mich an einen Mitarbeiter des juristischen Lehrstuhls an der Uni, der mir und einem Freund auf die Frage hin, ob wir unsere Hilfsmittel für eine Klausur mitbringen durften, antwortete: »Wir sind hier eine Universität und kein Lazarett.« Das macht mich bis heute wütend. Genauso wie die Frage, ob ich als blinder Praktikant in der Mittagspause die Mitarbeiter des Unternehmens massieren würde, denn Blinde seien ja immer Masseure. Oder die (leider häufiger gestellte) spontane Kontrollfrage, ob denn auch meine Schuhe ordentlich gebunden seien, als ich einer Mitarbeiterin als ihr neuer Chef vorgestellt wurde. Waren sie natürlich, danke, mein Gehirn funktioniert ganz gut.

Es waren vor allem solche Erlebnisse, die mir gezeigt haben, dass ich mich besonders kompetent präsentieren muss, wenn ich als vollwertige Arbeitskraft angesehen werden will. Denn ich möchte nicht als Quotenbehinderter eingestellt werden, sondern zeigen, was ich kann. Um beim Antritt einer neuen Stelle zügig loslegen zu können, habe ich mir deshalb angewöhnt, mir meine eigene Software mitzubringen, mit der ich mir meinen Arbeitsplatz möglichst schnell möglichst barrierefrei gestalten kann. Problematisch wird es dann allerdings, wenn Dateiformate genutzt werden, die nicht barrierefrei sind und die ich nicht lesen kann. Bei PDFs ist das zum Beispiel der Fall, Word-Dokumente funktionieren dagegen sehr gut. Mir ist klar, dass die meisten Menschen das nicht wissen. Deshalb schreibe ich für meine Kolleginnen und Kollegen mittlerweile Manuals, in denen erklärt wird, wie man Dokumente barrierefrei macht. Barrierefreiheit braucht Bewusstsein und Mitdenken – dann ist eine Menge möglich. Für alle Seiten.

In der nächsten Woche: Woher ich auch ohne Spiegel weiß, wie ich aussehe.