Ich atme so tief ein wie ich kann, klinke mich für einen Moment aus dem Gespräch am Tisch aus – und genieße. Ich spüre die letzte Wärme der Abendsonne auf meinem Rücken, nehme Lachen, Gesprächsfetzen, zwei sich streitende Spatzen, das leise Rascheln des Windes in den großen, alten Bäumen um uns war. Ich rieche das Essen auf den Tellern neben uns, ganz klar Spargel mit Kartoffeln und Butter, und den angenehmen Bratengeruch, der aus der Küche in den Biergarten weht. Ein perfekter Moment.
Essen bedeutet für mich Wahrnehmen mit allen Sinnen, und gutes Essen ist für mich eine Wohltat von Kopf bis Fuß. Ganz besonders jetzt im Frühling, wenn man abends draußen sitzen kann, umringt von Eindrücken unter den Fingern, in der Nase und am Gaumen. Das bereitet mir unheimlichen Spaß, es ist mein ganz persönlicher Luxus.
Was einen Menschen für mich schön macht, habe ich an anderer Stelle schon beschrieben. Ähnlich geht es mir den Dingen, also der Welt, die mich umgibt. Schönheit (oder auch Hässlichkeit) zeigt sich für mich auch hier in Geräuschen, in Düften, im Geschmack oder darin, wie sich etwas anfühlt. Deshalb ist die Chance, dass ich etwas besonders schön finde, meist dann am größten, wenn ich die Ruhe habe, um all meine Sinne voll arbeiten zu lassen. Wie zum Beispiel bei einem ausgedehnten Restaurantbesuch.
Meine Finger gleiten über den Tisch. Ich suche nichts bestimmtes, möchte einfach nur die Maserung etwas näher betrachten. Der Holztisch dürfte zwar von der Stange sein, denn seit einigen Jahren begegnet mir dieser Typ Tisch in vielen Biergärten oder anderer Außengastronomie: abgerundete Holzbalken mit parallelen, flachen Einkerbungen in regelmäßigen Abstand. Zwischen den einzelnen langen Balken ist eine kleine Lücke. Das Holz fühlt sich rund und voll an und die Oberflächenstruktur ist angenehm angeraut. Ich habe diese Art von Tischen sehr gerne unter den Fingerspitzen, sie ist für mich zu so etwas wie einem Signal für Genuss und Entschleunigung geworden. Und ich bin froh, dass die Standardbierbank mit ihrem gepressten Sperrholz und der künstlich auflackierten Glattheit heute immer seltener zu finden ist. Sie können sich das Gefühl, das für mich von so einer Bank ausgeht, in etwas so vorstellen, als würden Sie an einem Tisch mit einer apfelgrün-violett karierten Tischdecke sitzen. Da schmeckt es gleich ein bisschen weniger gut, oder?
Meinen Lieblingswein würde ich vermutlich aus tausend anderen Weinen herrausschmecken
Auch Besteck, Servietten und Kaffeetassen können sich hässlich oder schön anfühlen. Ich empfinde sie als schön, wenn sie ein gewisses Gewicht haben. Wie zum Beispiel der tönerne Bierkrug vor mir oder das große Steakmesser, das ich sanft in meinen Fingern wiege. Wenn diese Gegenstände zu leicht sind, nehme ich sie nicht so gern in die Hand. Für mich wirklich schöne Alltagsgegenstände sind nicht nur ein wenig schwerer als der Durchschnitt, sondern haben noch dazu feine Formen. Zum Beispiel eine Kaffeetasse mit einem zarten Porzellanrand oder ein Weinglas, das trotz seiner Filigranität gut in der Hand liegt. Ich schätze, dass sehende Menschen unbewusst eine ähnliche Wahrnehmung haben. Denn handgeschöpftes, schweres Büttenpapier finden die meisten Menschen ja auch schöner als jenes, das aus dem Bürodrucker kommt.
Attraktiv sind Dinge für mich zudem, wenn sie mir aus sich heraus eine Geschichte erzählen oder Assoziationen und Bilder hervorrufen. Oder wenn ich durch ihren Geschmack sofort eine Farbe vor meinem inneren Auge habe. Bei Wein ist das zum Beispiel so. Mein Lieblingswein schmeckt zuerst mineralisch frisch und liegt mir grün auf der Zunge, dann wird er im Gaumen ein wenig fruchtig rot-orange. Es ist ein neuseeländischer Sauvignon Blanc von einem Weingut ganz im Norden der Südinsel. Wenn ich ihn trinke, stelle ich mir die Landschaft vor, aus der ein Wein stammt; bei meinem Lieblingswein ist sie tiefgrün auf roter, vulkanischer Erde. Der Geschmack des Weins nimmt mich dann auf eine innere Reise mit, so kann ich mir jeden kleinen Eindruck auf Zunge und Gaumen später ganz genau ins Gedächtnis rufen. Meinen Lieblingswein würde ich vermutlich aus tausend anderen Weinen herrausschmecken.
Und ein ganzes Buch erzählt mir jedes Mal der Geschmack von Kirschmarmelade. Wenn ich die im Mund habe, höre ich schon den Schnee unter den Füßen knirschen. Während meiner Kindheit haben wir die Winterurlaube immer bei einer Familie im Salzburger Land verbracht. In der kleinen Pension gab es morgens von der Dame des Hauses selbstgemachte Schattenmorellen-Marmelade, bevor wir raus in den Schnee stürmten. Die großen, dunklen Fruchtstücke schmecke ich bis heute nach. So ist der Geruchssinn für mich auch immer wieder eine Brücke in die eigene Vergangenheit; eine Erfahrung, die Sie bestimmt auch schon einmal gemacht haben, wenn es irgendwo plötzlich nach dem Lieblings-Aprikosenkuchen duftete, den Ihre Großmutter für Sie backte, wenn Sie zu Besuch kamen.
Weniger fantasieanregend ist für mich dagegen alles, was nach Süßholzwurzel riecht oder schmeckt. Da ist meine Nase fast schon ein bisschen paranoid. Ganz praktisch ist so sensible Nase bei vergorener Milch oder verdorbenem Fleisch, die haben bei mir keine Chance – und ich wage zu behaupten, dass ich aufgrund dieser ausgeprägten Geruchs- und Geschmacksfähigkeit ein recht guter (und vermutlich auch skeptischer) Restaurantkritiker wäre.
Da dies die letzte Folge dieser Kolumne ist, möchte ich Sie abschließend ermuntern: Schließen Sie öfter mal die Augen und lassen Sie die Eindrücke all Ihrer Sinne wirken. Wenn Sie im Biergarten sitzen, inmitten einer blühenden Sommerwiese, wenn Sie Ihren Lieblingssong hören oder durch Ihr Viertel schlendern. Probieren Sie mal aus, wie es sich anfühlt, mit den Fingerspitzen die feinen, steinernen Bögen und ausgearbeiteten Konturen der Fassaden von Jugendstilvillen entlangzufahren. Auch auf diese Weise kann man Kunst wahrnehmen, und gewinnt noch dazu ein ganz anderes Bild davon. Denn Sehen ohne Augen kann wunderschön sein.