Kann ich als Blinder ein guter Vater sein?

Wegen seiner Sehbehinderung kann unser Kolumnist dieses Thema nicht einfach auf sich zukommen lassen. Deswegen sucht er schon jetzt nach Lösungen - zum Beispiel, wie er unfallfrei Windeln wechselt.

Foto: Evelyn Dragan

Es gibt dieses Sprichwort, das besagt, dass große Ereignisse ihre Schatten vorauswerfen. Ich bewege mich mit meinen Gedanken gerade häufig in so einem Schatten, wobei dieser noch ziemlich klein ist. Aber er wird größer werden mit der Zeit, so wie ein kleiner Mensch im Laufe seines Lebens größer wird. Denn genau darum geht es: Ich möchte Papa werden. Und ich frage mich immer und immer wieder: Kann ein blinder Vater ein guter Vater sein? Kann er so da sein für sein Kind, wie dieses das braucht, um sicher und behütet aufzuwachsen?

Ich möchte Kinder haben, seit ich mich erinnern kann. Doch je konkreter unsere Familienplanung wird, desto stärker mischen sich die Sorgen und zweifelnde Fragen unter die Vorfreude. Ich weiß, dass sich viele junge Männer nicht vorstellen können, was es bedeutet, Vater zu sein – bis sie es tatsächlich sind. Auch mir fällt die Vorstellung schwer, so ein kleines quäkendes Lebewesen im Arm zu haben, das ohne meine Hilfe nicht überleben könnte. Gleichzeitig ist mir klar, dass ich all das nicht einfach so auf mich zukommen lassen kann wie viele, die sehen. »Mal schauen« ist bei mir nicht drin. Ich muss diesen Schritt sorgfältig durchdenken, um mich so gut auf die neue Aufgabe vorzubereiten wie nur möglich.

Dazu gehört auch die Klärung der Frage: Wie wahrscheinlich ist es, dass mein Kind meine Behinderung erbt? Bis heute weiß niemand genau, warum meine Augen so sind, wie sie sind. Für meine Kinder wünsche ich mir aber eine freie und offene Zukunft. Deshalb habe ich mein Blut von einem humangenetischen Institut aufwändig untersuchen und sogenannte Genkartierungen erstellen lassen. Damit wurde die Gesundheit meiner Vorfahren und deren Veranlagung in den Vererbungen bestimmt, um feststellen zu können, ob eine eventuelle Seheinschränkung mitgegeben werden könnte. Nach einigen Wochen steht nun fest: Es gibt keine Anzeichen dafür, dass ich meine Blindheit vererben werde.

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Wenn ich an die nächsten Jahre denke, tauchen weitere Fragen auf. Wie werde ich meine Kinder wahrnehmen können? Werde ich an einem hellen Tag den Schimmer eines Lächelns erkennen, das meinem ähnelt? Werde ich meine Worte, meine Haltung, meine Erfahrung in ein paar Jahren in ihren Stimmen klingen hören? Das ist für mich besonders wichtig, da ich daran erkennen kann, dass es nicht nur meine Kinder sind, sondern auch meine Erziehung.

Und weiter: Wie kann ich sicher sein, ob ich beim Windelwechseln wirklich alle Spuren beseitigt habe? Woher weiß ich, wo das Baby gerade hinkrabbelt und was es sich in den Mund steckt? Wie kann ich mein Kind schützen, wenn ich es auf dem Spielplatz loslassen und aus der Ferne bewachen muss?

Ich habe mich schon über sprechende Kinderbücher informiert, mit deren Hilfe ich meinen Kindern Geschichten »vorlesen« kann

Auf all diese Fragen habe ich noch keine perfekten Antworten gefunden. Aber ich habe Ideen. Beim Windelwechseln werde ich mein Kind unter dem lauwarmen Strahl des Wasserhahns in unserem Badezimmer abwaschen. So werden alle Spuren verschwinden. Auf dem Spielplatz werde ich sicher nicht der einzige Erwachsene sein und muss dann eben andere Eltern um ein wachsames Auge bitten. In unserer Wohnung plane ich bereits einen barrierefreien Papa-Kind-Spielbereich, in dem es weder Stolperfallen noch offene Steckdosen gibt. Ich habe mich schon über sprechende Kinderbücher informiert, mit deren Hilfe ich meinen Kindern Geschichten »vorlesen« kann. Und ich weiß längst, an welcher Schule es iPad-Klassen gibt, in denen die Kinder digital unterrichtet werden. So könnte ich mir die Hausaufgaben über den Bildschirm auslesen lassen, um gemeinsam mit meinem Kind zu lernen.

Und noch etwas treibt meine Frau, die im Übrigen hervorragend sieht, und mich um. Für uns ist es wahnsinnig wichtig, dass das Kind uns als gleichberechtigte Eltern wahrnimmt. Alleine deshalb muss ich als Papa mit dem Kind genau so raus in die Welt wie seine Mama. Mit dem Kinderwagen würde ich nicht weit kommen, wir würden jede Hausecke und jeden Laternenpfahl mitnehmen. Wenn ich mir das Kind in einer Babytrage vor die Brust schnalle, kann ich uns beide sicher mit dem Blindenlangstock in den Supermarkt oder in die Krabbelgruppe bringen.

Ich habe noch nicht angefangen, nach Ratgebern für blinde Väter zu suchen (gibt es da überhaupt welche?). Aber ich suche Rat bei zwei blinden Vätern, die ich kenne. Einer sagt, er sei mittlerweile Spezialist für die richtige Temperatur des Fläschchens, weil sein Empfinden an der Wange so präzise ist, dass er 38 Grad punktgenau abschätzen kann. Der andere sagt, und dieses Talent besitze ich heute auch schon, dass er der Erste sei, der ein herannahendes Auto höre - und somit eine Art menschliches Frühwarnsystem. Außerdem kann ich mir gut vorstellen, dass ich lange vor meiner Frau wach werde, wenn das Kind schreit, da meine Ohren wirklich sehr leise Geräusche wahrnehmen können. Und auch die Kinder stellen sich auf blinde Väter ein: Ein Vater erzählt von seinem Sohn, dass dieser alle offenen Schubladen und Schranktüren schließt, bevor der Papa in die Küche darf. Die Tochter des Zweiten möchte ihr Pony als Führ-Pony für ihren blinden Vater ausbilden.

Ich habe deshalb keine Zweifel, dass wir gemeinsam die Barrieren und Hindernisse meistern werden, die sich uns in den Weg stellen. Notfalls mit Improvisation. Mut macht mir dabei, dass ich meinem Kind als blinder Vater andere Perspektiven mitgeben kann. Es wird hoffentlich schnell begreifen, dass man seine Freunde nicht nach Kleidern beurteilt, sondern nach dem, was sie zu sagen haben. Es kann gut sein, dass mein Kind das Meer riecht, bevor es das Wasser sieht - weil ich seine Nase darauf trainiert habe. Und ich bin mir sicher, dass mein Kind lernt, ein offenes Herz für Menschen zu haben, die die Welt ein bisschen anders sehen als die meisten. So wie sein Papa.