Jeder Tag fühlt sich an wie ein Monat, die Nachrichten und Ereignisse überschlagen sich und auch die eigene Einschätzung zur Coronakrise entwickelt sich jeden Tag weiter. »Give me a break« möchte man dem Virus nach dem Konsum von minütlichen Newsticker-Updates und sieben Folgen Tagesschau täglich zurufen. Wer Entspannung und geistige Zerstreuung sucht, wird diese an einem Ort sicherlich nicht finden: Den sozialen Medien.
Seit über Sicherheitsabstand diskutiert wird, gibt es dort viel zu tun – »Social Distancing« bezieht sich offensichtlich nur auf die physische Komponente, nicht auf die Distanzierung von sozialen Medien. Schließlich findet sich auch in den eigenen vier Wänden haufenweise Fotomaterial. Versehen mit dem Hashtag #fromwhereiwork zeigt man nun der Welt, in welch wohlig designter »Schöner Wohnen«-Atmosphäre man so täglich sein Macbook aufklappt und den Third-Wave-Coffee aus Individualkeramik schlürft – nur unterbrochen von der #mealprep einer Belugalinsen-Blattspinat-Avocadobowl zum Lunch. Man teilt die #viewfrommywindow in den eigenen Garten oder den rosa Sonnenuntergangshimmel und vorher noch ein Video seines persönlichen #athomeworkout.
Um andere zu zwingen, ähnliches zu tun, eignen sich am besten Challenges – und von denen hat sich die Online-Community innerhalb weniger Tage so einige ausgedacht. Die FreundInnen und FollowerInnen sollen ihr Homeoffice und ihre Back- und Kochkünste zeigen, auch süße Kinderfotos von sich teilen, auch an einer Outfit-Wechsel-Challenge auf Tiktok teilnehmen oder ein Bild ihres aktuellen »Work from home«-Looks auf Instagram posten.
Wo man den Designerfummel jetzt vorführen kann? Na, auf dem Balkon oder dem Cross-Trainer.
Man hätte meinen können, soziale Isolation hätte zumindest die Mode-Maschinerie auf Instagram irgendwie zum Erliegen gebracht – die Plattform ist schließlich bekannt für ihre durchgefilterte Scheinwelt voller (bezahlter) Outfitposts, doch wo soll jetzt all der Content herkommen, wenn keiner einkauft und alle Events ausfallen? Doch weit gefehlt: Die Designerfummel lassen sich schon unterbringen, Nachhilfe gibt es bei den InfluencerInnen (die posten sich jetzt täglich vom eigenen Balkon) und Stars.
Mariah Carey beteiligte sich vergangene Woche etwa an dem #istayhomefor-Aufruf und teilte dafür ganz authentisch ein Foto von sich und ihren Kindern im Zubettgeh-Look – ihrerseits bestehend aus Louis-Vuitton-Monogramm-Pyjama und perfektem Make-up. Einen Tag später meldete sie sich wieder von zu Hause zu Wort – dieses Mal singend vom Cross-Trainer im hauseigenen Gym, bekleidet mit glitzerndem Gucci-Shirt, Sonnenbrille und Gummihandschuhen. Cathy Hummels steht derweil wie aus dem Ei gepellt und mit Tüll-Tutu auf der heimischen Yogamatte und Karlie Kloss ruft in Bustier und mit perfektem Eyeliner zum 10-Minute-Workout auf.
All diese aufgerüschte und hübsch verpackte Feel-good-Abbildung der Selbstisolation kann sehr ermüdend sein. Nicht falsch verstehen. Es ist toll, dass die sozialen Medien gerade ein Kanal sind, auf dem wichtige Botschaften überbracht und Solidarität gezeigt werden, kreative Problemlösungen entstehen und geteilt werden und Menschen sich vernetzen können.
Aber wer nach 18 Zoom-Meetings und 29 Slack-Calls nicht bereit ist, sich bei seiner Home-Yoga-Session mit rotem Kopf und ausgleierten alten Schlabberklamotten zu filmen und danach die Wohnung für ein virtuelles Dinner mit Freunden herzurichten, sondern lieber einfach die Wand anstarren und dabei Tiefkühlpommes essen möchte, dem sei Verständnis ausgesprochen.
Man hat ja ohnehin schon viel zu verdauen dieser Tage, da könnte man die soziale Druckausübung doch etwas herunterfahren.
Und wenn dann nach wochenlanger Selbstisolation und Hosen mit Gummibund jemand Lust hat, sich für die Morgenkonfi in sein Ausgehoutfit zu schmeißen und aufzubrezeln – bitte, sehr gerne. Meinungsänderungen sind dieser Tage, wie eingangs erwähnt, ja ohnehin an der Tagesordnung.
Wird getragen von: Keiner ernsthaft in Home Office arbeitenden Person
Wird getragen mit: Föhnfrisur, perfektem Make-up, gutem Fotolicht, SetdesignerIn
Der Song dazu: »Under pressure«, Queen, David Bowie