Manchmal klingt Mode wie der Wetterbericht: Es gibt Hochs, Tiefs, viel Wind um Nichts und ständig Anzeichen, dass da etwas aufzieht. Nur braucht es für die Vorhersage eines Trends in der Mode keine hochempfindliche Wetterstation am Kahlen Asten, keinen Kachelmann, sondern manchmal nur ein Filmposter mit Lady Gaga.
Ok, es handelt sich hierbei nicht um irgendein Poster, sondern wahrscheinlich um das Filmplakat des Jahres. Die Ankündigung für Ridley Scotts House of Gucci (HOG), dessen breitgestreute Appetithäppchen seit Wochen die Fans aus der ohnehin schon niedrigschwelligen Fassung bringen – obwohl der Film erst Ende November anläuft. Wie soll man so lange ausharren? Ist das legal, die Leute fast ein halbes Jahr früher mit solchem Hammer-Zeug anzufixen?
Eingefleischte Gaga-, Adam-Driver- (ihr Co-Star) und Gucci-Anhänger wählen zur Überbrückung offensichtlich die akribische Spurensuche im Netz. Jeder Filmschnipsel wird geteilt, bestaunt, besprochen. Unter dem Hashtag #houseofgucci kursieren auf Instagram bereits jetzt über 31.000 Einträge. Andere Möglichkeit: Schon mal sämtliche Kleider des Labels aus der Familie und im näheren Bekanntenkreis zusammensuchen, um bis zum Kinobesuch von Kopf bis Fuß in Gucci auflaufen zu können. So viel Motto-Kleidung gab es wahrscheinlich seit Harry Potter und Star Wars nicht mehr.
Wer das Filmposter mode-meteorologisch genau analysiert, sieht sich da noch etwas abzeichnen, auf das man sich schon mal seelisch wie materiell vorbereiten kann: die Rückkehr des Schleiers. Lady Gaga trägt auf dem Filmplakat nämlich nicht nur blutroten Lippenstift und eine perlmuttfarbene Muschelkette, sondern vor allem einen schwarzen Netzschleier, klassisches Witwen-Styling mit Agatha-Christie-Appeal. Dieses eigentlich längst abgelegte Accessoire versucht immer mal wieder ein Comeback. Raf Simons hängte ihn 2012 bei Jil Sander an einen Beanie, mit erstaunlichem Erfolg. Vor allem asiatische Blogger griffen begeistert zu der ungewöhnlichen Kreuzung aus Streetwear und Glamour und liefen im Hochsommer mit Wollmütze und praktischem Fliegengitter durch die Gegend. Vor zwei Jahren waren sogar gleich bei Marc Jacobs, Dior Couture und Erdem Vorhänge aus Tüll und Netz zu sehen, allerdings eher mit überschaubarem Erfolg.
Aber Lady Gaga, als schwarze Witze, in Gucci, zu Social-Distancing-Zeiten – das ist eine gänzlich andere Konstellation. Mehrfaches Hochdruckgebiet quasi. Denn hier assoziiert der Schleier nicht nur maximalen Old-School-Glamour, sondern auch, dass man es faustdick hinter dem Fischnetz hat. (Die Sängerin spielt bekanntlich – auch wenn das im Rahmen dieser massiven Promotion wahrscheinlich kaum mehr erwähnt werden muss – Patrizia Reggiani, die ihren Ex-Ehemann Maurizio Gucci umbringen ließ.) Was Gaga trägt, wird sowieso schon immer massenhaft kopiert. Nun legt aber jede, wirklich jede bislang bekannte Szene aus dem Film nahe, dass die Ausstattung so irre gut ist, dass der Spätherbst ziemlich Siebziger-, Achtziger- und generell sehr »HOG«-lastig werden dürfte. Nur eine Frage der Zeit, bis die Vintage-Läden leergekauft sind und Instagram mit Schleiern überschwemmt wird.
In Zeiten, in denen alles transparenter wird, jeder seine Daten offenlegt und den Bauchnabel und diverse Rippenknochen noch gleich mit, erscheint der Schleier durchaus zeitgemäß. Eine total durchsichtige Form des Abtauchens – zumal mit massiver Wirkung. Ein runtergelassener Schleier signalisiert sofort: »vorübergehend geschlossen«, bitte nicht ansprechen. Das perfekte Accessoire für Leute, die sich nach Lockdown und 3G auch weiterhin ein Stück weit von der Außenwelt distanzieren möchten.
Wurde auch getragen von: Lady Di, Dita von Teese, Daphne Guinness
Typischer Instagram-Kommentar: »Erscheint mir äußerst schleierhaft«
Passender Song: See through (Billie Eilish)