Gib Flosse

In deutschen Freibädern sieht man erstaunlich viele Meerjungfrauen. »Mermaiding« nennt sich der Trend, schillernde Neopren-Schwanzflossen zum Schwimmen oder als Modeaccessoire anzuziehen. Warum nur wollen alle eine kleine, unbewegliche Meerjungfrau sein?

Foto: AFP

Reservierungen fürs Freibad sind so etwas wie die limitierten Sneakers des Corona-Sommers: Immer nur für sehr kurze Zeit erwerblich, sofort vergriffen und anschließend auf dem Wiederverkaufsmarkt zu finden (wer das nicht glaubt, schaue jetzt bei eBay-Kleinanzeigen nach). Wer trotz allem einen der begehrten Schwimm-Slots ergattert haben sollte, dem dürfte im halbleeren Bad ein weiterer Trend kaum entgangen sein: Mermaiding. Immer mehr Menschen scheinen sich dafür zu begeistern, eingepfercht in eine schillernde Stretch-Schwanzflosse als Meerjungfrau durchs Chlorwasser zu paddeln – oder es zumindest zu versuchen: Schwerfällig und wehmütig wie der Seele-Fant aus »Urmel aus dem Eis« liegen die kleinen Meerjungfrauen dann doch oft eher am Rand des Kinderbeckens herum und suhlen sich in ihrem (Schuppen-)Glanz.

Und während sich im öffentlichen Freibad vor allem junge Fans in der Meerjungfrauen-Imitation üben, obliegt diese grundsätzlich keiner Altersbeschränkung. »Meerjungfrauen Flossen« zeigt derzeit über 90.000 Ergebnisse auf Google, allein Amazon hat 390 Angebote dazu, und auch zu »Meerjungfrauen Kurse« werden einem über 61.000 Treffer angezeigt, die entsprechenden Schulen dazu sprießen aus dem Boden.

Hinter dem Begriff des Mermaiding hat sich circa seit Mitte der 2000er eine ganze Community gebildet, deren Mitglieder, die »Mers«, in einer Art extremem Cosplay oft in hochaufwändig gestalteten Schwanzflossen und sonstigem passenden Zubehör durch die Gegend schwimmen oder schlicht darin posieren. Für einige von ihnen ist das Meerjungfrauen-Dasein gar zum Job geworden, etwa für die einstige Reality-TV-Darstellerin und ehemalige »Miss Niedersachsen« Katrin Schwarz, die heute als Katrin Gray Deutschlands vielleicht bekannteste professionelle Meerjungfrau ist.

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Und auch auf die Celebrities dieser Welt haben Meerjungfrauen immer wieder Outfit-Inspiration ausgeübt. Wir erinnern uns an Cher im Film »Meerjungfrauen küssen besser« von 1990, Lil’Kim mit ihrem legendären Look bei den VMAs 1999 mit glänzendem Muschelaufkleber auf der nackten linken Burst (der später Miley Cyrus als Vorbild für ihr Halloween-Kostüm 2013 und zweifellos auch Kylie Jenner für ihr Outfit bei der Met Gala 2019 diente) und Mariah Carey an Halloween. Oder auch an Virgin-Gründer Richard Branson und seine Meerjungfrauen-Aktion für eine Umweltschutzorganisation.

Doch was steckt hinter der Faszination? Die Rolle der kleinen Meerjungfrau ist bei genauerer Betrachtung besonders für junge Fans als Vorbild durchaus fragwürdig. Immerhin verzichtet die Figur im Märchen von Hans Christian Andersen auf ihre Stimme und die Möglichkeit, jemals zu ihrer Familie zurückzukehren – nur, um von einem Mann geliebt zu werden. Auch in der späteren Disney-Adaption kann Arielle nur durch den Prinzen Erik und dessen Kuss glücklich werden – und die Zustimmung ihres Vaters zur Hochzeit. Auch das Schönheitsbild, das über die klassische Darstellung der Arielle transportiert wird (Sanduhr-Silhouette mit Mini-Taille, viel nackte Haut, hüftlanges Jahr), zeugt nicht gerade von einer feministischen Weltanschauung.

Gut, bei Kindern dürfte Verkleiden und viel Glitzer auf den Neopren-Flossen (und den selbstverständlich mitverkauften passenden Badeanzügen) durchaus für ordentlich Anreiz sorgen – immerhin, so sagen befreundete Eltern, interessieren sich mittlerweile auch einige Jungs für eine Meerjungfrauen-Austattung.

Und die erwachsenen Mermaids kann man derzeit vielleicht mit einer Art coronabedingtem Eskapismus entschuldigen: Wer schon nicht in Clubs voll aufdrehen und sich kostümieren kann, dem bleibt aktuell der Beckenrand.

Disney arbeitet übrigens gerade an einer neuen Realverfilmung von Arielle mit der afroamerikanischen Sängerin und Schauspielerin Halle Bailey in der Hauptrolle. Wenn diese Besetzung und die Ausgestaltung der Figur der Jasmin in Disneys Realverfilmung von »Aladdin« im letzten Jahr (nach dem Tod ihres Vaters wird diese hier selbst Herrscherin über Agrabah und singt einen emanzipierten Song) irgendein Indiz sind, könnte sich in dem Film, der 2021 starten soll, ein moderneres Meerjungfrauen-Bild zeichnen. Mal sehen, wie es dann mit der Konjunktur der Schwanzflossen weitergeht.

Wird getragen mit: bunten Perücken, gutem Sitzfleisch (Aufstehen unmöglich), Muschel am Ohr

Wird getragen von: Videospiel-Nerds, BesucherInnen der Comic Con, jungen Seepferdchen-InhaberInnen unter Peer-Pressure

Nicht verwechseln mit: Marmite (Brotaufstrich aus Hefeextrakt und Inbegriff der britischen Küche)