Es wird zu Missverständnissen kommen. Gewissenhafte Putzkräfte und Eltern dieser Welt werden die zerfetzten Schuhe im Flur stehen sehen. Vielleicht entdecken sie sie auch im offenen Schuhkarton und denken, dass das neue Paar herausgenommen und angezogen wurde, während die alten Dinger, die nun wirklich hinüber sind, an ihrer Stelle hineingelegt wurden. Und dann tun sie das, wovon in den ganzen Motivations-Podcasts dauernd die Rede ist: Sie gehen »the extra mile«. Sie machen mehr, als sie eigentlich müssten, denn sie meinen es besonders gut: Also entsorgen sie die kaputten Sneakers netterweise im Müll.
1450 Euro für die Tonne wären zwar nicht so schlimm wie ein paar Hunderttausend für eine fälschlich gesäuberte Fettecke oder ein entsorgtes Fahrrad-Rad – aber womöglich steht der »Paris« Sneaker von Balenciaga tatsächlich bald in der Tradition von Joseph Beuys und Marcel Duchamp (so würde es der Marke zumindest gefallen): Kunst, die nicht immer gleich als solche verstanden wird, und deshalb bisweilen aus Versehen beseitigt, in jedem Fall heftig diskutiert wird.
Auf Social Media fragten sich viele Nutzer am Montag, als das neue Modell samt »Destroyed«-Sonderedition auf den Markt kam, ob das ein Witz sein solle. Eine Mutter witzelte bei Twitter, sie hätte nie gedacht, dass ihr Sohn mal Trendsetter sein würde, aber mit dem »Look« laufe er schon seit Jahren durch die Gegend. Andere fühlten sich tatsächlich auf die Füße getreten: Balenciaga und ihr Designer Demna Gvasalia machten sich allmählich über ihre Kunden lustig und glaubten wohl, ihnen alles verkaufen zu können. Zumal der Slogan zu den abgebildeten Schuhen lautete: »Meant to be worn for a lifetime«, was eine lustige Text-Bild-Schere ergibt, wenn Schaft und Sohle zum Kaufzeitpunkt bereits beim bloßen Angucken auseinander zu fallen scheinen.
»Als hätten die Schuhe das aufregende Leben gehabt, von dem der Besitzer nur träumen kann. Eine Art Stellvertreter-Abenteuer«
Aber wie immer im Leben gilt auch hier: lesen hilft. Die Fotos, die durchs Internet wandern, sind Kampagnenmotive mit »extrem getragenen und beschmutzten« Modellen. Die gewöhnlichen Sneakers sind ganz normale, ziemlich intakte Leinenturnschuhe. Allerdings gibt es tatsächlich eine Limited Edition von 100 Paaren, die bei weitem nicht so »destroyed« wie auf den Fotos, aber durchaus »distressed« sind: Risse im Stoff, starke Abnutzungen, Markenschriftzug mit Edding der ganzen Spannlänge nach aufs Gummi geschrieben. Ob gewollte oder tatsächlich mal zufällige Irreführung – der Aufmerksamkeitseffekt könnte natürlich nicht besser sein, und so kommen auch Modekolumnistinnen kaum drum herum, sich den Schuh vorzuknöpfen. Man kann damit rechnen, dass das tatsächlich erhältliche Modell schnell ausverkauft sein wird.
Nicht nur große Kampagnen, auch der Used-Look selbst hat schon lange Tradition in der Mode: Jeans, T-Shirts oder Pullover mit Löchern, Schlitzen und anderen Gebrauchsspuren runterrocken, damit sie verwegen oder zumindest nicht mehr spießig aussehen. Als hätten sie schon das aufregende Leben gehabt, von dem sein neuer Besitzer nur träumen kann. Eine Art Stellvertreter-Abenteuer. Wie traurig, wie genial als Geschäftsidee. Denn weil die vorsätzliche Zerstörung ja schon wieder mit extra Aufwand und womöglich sogar Handarbeit verbunden ist, darf der Preis noch einmal hochgesetzt werden, logisch.
Vielleicht wird »Paris« – gerade in diesen kaputten Zeiten - ja doch noch ein postmoderner Tritt in unsere Hintern. Eine Parabel auf eine Luxusindustrie mit entfesselten Preisen, absurden Mechanismen und den dazugehörigen vollkommen schmerzfreien Kunden. Macht kaputt was euch kaputt macht. Das hieße in diesem Fall allerdings: Weder den unversehrten noch den bearbeiteten nehmen, sondern: einfach mal gar nichts kaufen.
Typischer Instagram-Kommentar: »Der sieht so aus wie ich mich fühle«
Das sagt der Verkäufer: »Handle with care«
Passender Song: »Seek and destroy« (Metallica)