Mein Rassismus, dein Rassismus, unser aller Rassismus

Obwohl sie oft gefragt wird, möchte unsere Autorin nicht mehr über ihre persönlichen Diskriminierungs-Erfahrungen reden – und erklärt hier, was falsch ist am sogenannten »Racism Porn«.

Ciani-Sophia Hoeder, 30, kommt aus Berlin und ist Gründerin von RosaMag, dem ersten Online-Lifestylemagazin für Schwarze Frauen im deutschsprachigen Raum.

Foto: RosaMag

»Frau Hoeder, gibt es in Deutschland Rassismus und welche Erfahrungen haben Sie damit gesammelt?«, fragte mich die Moderatorin. Schon wieder! Dabei hatte mir die Redaktion im Vorgespräch noch erklärt, dass ich nicht über meine persönlichen Erfahrungen sprechen müsse. Pustekuchen. Als die Radiosendung startete, war genau das die Einstiegsfrage. Es ging nicht um mein Magazin RosaMag oder gar um konstruktive Ideen, wie wir zu einer weniger rassistischen Gesellschaft werden könnten. Es ging um »Racism Porn«.

Diesen Begriff habe ich bei der Aktivistin, Autorin und Antirassismus-Coachin Tupoka Ogette gelesen, und ich finde, er passt hervorragend zum aktuellen Diskurs rund um strukturellen Rassismus in Deutschland. Als nach der Ermordung von George Floyd die Menschen auf die Straße gingen, wäre das doch eigentlich der richtige Moment gewesen, um darüber zu sprechen, wie verbreitet Racial Profiling auch bei der deutschen Polizei ist und was man dagegen tun könnte. Stattdessen ging es für mein Empfinden wieder mal in erster Linie darum, sich von Schwarzen Menschen und People of Color ihre – oft sehr intimen und traumatischen – Rassismus-Erfahrungen schildern zu lassen, sie zu beleuchten und aus allen Winkeln zu betrachten: Emotionen, Blut, Wut, ein paar Tränen und eine Portion Gewalt inklusive, und das alles schön dramatisch zusammengerührt und als mitreißende Story verpackt.

Mir ist klar, dass einigen dieser Geschichten durchaus die Intention zugrunde liegt, etwas gegen Rassismus zu tun. Dennoch greift der Ansatz meines Erachtens zu kurz – weil Rassismus, auf diese Weise beschrieben, als individuelle Erfahrung einer relativ kleinen Gruppe von Betroffenen erscheint; der gesamtgesellschaftliche Kontext bleibt außen vor. Rassismus ist ein soziales Konstrukt, von weißen Menschen konzipiert, um die systematische Ausbeutung und Kolonialisierung von Schwarzen Menschen zu legitimieren. Die Spuren davon zeichnen weiterhin das Leben von Schwarzen Menschen, das geht von Rückschlüssen, die von der Hautfarbe auf Geschmack und Charakter gezogen werden, über negative Stereotypen und Kriminalisierung durch staatliche Stellen bis hin zu tätlichen Angriffen.

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Rassismus benachteiligt Schwarze Menschen – und wo ein Nachteil ist, hat andererseits auch jemand einen Vorteil. Die Frage, wer von Rassismus profitiert, rückt allerdings total in den Hintergrund, wenn das Thema wie zuletzt eher als intimer Erfahrungsplausch abgehandelt wird, bei dem die weiße Mehrheitsgesellschaft ein kleines Loch in die Wand bohrt und lediglich ein paar schön gruselige Teile des Gesamtkomplexes betrachtet. Würde man den Blick weiten, so müsste man sich eingestehen, nicht nur Beobachter zu sein, sondern selbst zum Problem beizutragen, zum Beispiel durch den unhinterfragten Genuss von Privilegien.

Auch Polizeiaktionen gegen Schwarze Menschen mit tödlichem Ausgang gibt es nicht nur in den USA

Laut CDU-Politiker Friedrich Merz gibt es »keinen latenten Rassismus bei der Polizei«. Wie er das wohl herausgefunden hat? Denn Racial Profiling ist bundesweiter Alltag, insbesondere Schwarze junge Männer sind davon stark betroffen. Völlig ohne Anlass werden sie Polizeikontrollen unterzogen, weil man sie aufgrund ihres Aussehens und ihrer Hautfarbe einer Straftat für verdächtig hält oder einfach nur einschüchtern möchte. Letztlich wird hier eine Personengruppe systematisch kriminalisiert, was sogar schon mehrmals von Experten der Vereinten Nationen angesprochen wurde, zum Beispiel 2014 und 2017.

Auch Polizeiaktionen gegen Schwarze Menschen mit tödlichem Ausgang gibt es nicht nur in den USA. Hier in Deutschland stehen dafür Namen wie Rooble Warsame, der 2019 in Schweinfurt unter ungeklärten Umständen in der Zelle der Polizeiwache starb; bei der Polizei sprach man von Suizid. Oder Amad Ahmad, der 2018 in Kleve ebenfalls unter ungeklärten Umständen in seiner Zelle verbrannte – in der er zudem gar nicht hätte sitzen sollen, weil die Polizei ihn nur aufgrund einer Verwechslung verhaftet hatte. Sehr bekannt ist der Fall von Oury Jalloh, der 2005 in Dessau in einer Gewahrsamszelle der Polizei durch Feuer starb – es hieß, er habe es selbst gelegt, obwohl er an Händen und Füßen fixiert war. Auch in mehreren Gerichtsverfahren konnte das Geschehen nicht aufgeklärt werden, der zuständige Polizei-Dienstgruppenleiter wurde wegen fahrlässiger Tötung verurteilt.

In der öffentlichen Diskussion sind das die sprichwörtlichen »Einzelfälle«, und es heißt, daraus könne man nicht folgern, dass es bei der deutschen Polizei ein generelles Rassismus-Problem gebe. Den Beleg für diese Annahme könnten zum Beispiel Statistiken liefern, in denen aufgeführt wird, wie oft die Polizei in einem bestimmten Gebiet anlasslose Personenkontrollen durchführt, und welche Personen davon betroffen waren. Wenn es eine solche Statistik gäbe, bin ich sicher, dass sie zeigen würde, dass Schwarze Menschen sehr viel häufiger kontrolliert werden als weiße – das wäre dann ein unwiderruflicher Beleg für Rassismus.

Diese Statistik gibt es allerdings nicht, und das aus gutem Grund – in der Nazi-Zeit war die ethnische Herkunft ein wichtiges Kriterium bei der Polizeiarbeit und ein Werkzeug zu Diskriminierung und Unterdrückung. Dass man dies nun heute nicht mehr erfasst, ist also eigentlich ein Fortschritt, außer wenn es um den Rassismus-Nachweis geht. Um dieses Dilemma aufzulösen, arbeitet die Organisation »Each One Teach One« aus Berlin bereits am »#Afrozensus«: Bei diesem Projekt geht es darum, erstmals und möglichst umfassend die Lebensrealitäten, Diskriminierungserfahrungen und Perspektiven Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Menschen in Deutschland zu erfassen. Auf Basis der Ergebnisse sollen konkrete Maßnahmen vorgeschlagen werden, um rassistische Diskriminierung abzubauen.

Würde ein solcher Beleg die Diskussion in Deutschland verändern? Würde Rassismus dann nicht mehr als individuelles Problem gesehen, sondern als gesamtgesellschaftliches Konstrukt? Auf jeden Fall wäre es ein weiterer Schritt weg vom Racism Porn und von der Haltung, dass Polizeigewalt, struktureller Rassismus und Diskriminierung vor allem ein Problem der davon betroffenen Personen sind. Und nicht der weißen Menschen, die dieses System geschaffen haben. Und die es auch beenden müssen.

Glossar:

weiß: Wird kursiv geschrieben, denn weiß meint nicht lediglich den Hautton einer Person, sondern eine gesellschaftlich dominante Machtposition, die mit Privilegien verbunden ist.

Schwarz
: Wird groß geschrieben, da es, ebenso wie weiß, nicht den Hautton einer Person meint, sondern eine Selbstbezeichnung ist, die die politische und gesellschaftliche Positionierung einer Person beschreibt. Das Schwarze Subjekt ist gesellschafts-politisch und strukturell immer untergeordnet. Schwarz umfasst alle Personen(-gruppen) afrikanischer Herkunft.

People of Color
: Ist eine Selbstbezeichnung für unterschiedlichste Personen(-gruppen), die sich als nicht-weiß definieren. Diese können sehr heterogen sein und noch mal andere Selbstbezeichnungen verwenden, zum Beispiel:

Asian: Meint zumeist Personen mit ostasiatischem Erbe.
Desi: Ist eine Selbstbezeichnung von Personen mit südasiatischem Erbe.
Brown: Meint zumeist Personen mit südostasiatischem Erbe.
Latinx: Ist ein Sammelbegriff für Personen mit süd-/mittelamerikanischem Hintergrund. Die Endung x versucht, die Binarität (männlich/weiblich) der spanischen Sprache aufzubrechen.