Wie unsere Gesellschaft bunter und gerechter wird

Wenn das Wahlalter auf Bundesebene von 18 auf 16 gesenkt würde, könnte sich vieles automatisch zum Besseren wenden. Unsere Kolumnistin erzählt von ihrer Vision – in der alle Menschen mitgedacht und wertgeschätzt werden.

Foto: Megan Vada Hoeder

Ich habe Sehnsucht.

Nach einem Leben, in dem ich durch den Supermarkt schlendere, mit einem Korb unter dem Arm. Vor einem Regal mit vielen bunten Flaschen bleibe ich stehen, ich bin alleine in dem Gang, und niemand beobachtet mich mit argwöhnischem Blick. Meine Augen scannen die Verpackungen, bis sie gefunden haben, wonach sie suchten: ein Shampoo für meine Afrohaare. Es gibt sogar mehrere zur Auswahl. Ich zahle, verlasse den Supermarkt und schaue kurz beim Kiosk an der Ecke vorbei. Ich möchte mir was zum Lesen besorgen und greife zu dem Magazin, auf dessen Titel ein Porträt einer Schwarzen Politikerin prangt. Die Story handelt von ihrem Parteivorsitz und ihrer möglichen Kandidatur als Bundeskanzlerin.

Ich verstaue das Heft in meiner Tasche und spaziere durch meine Nachbarschaft. Schwarze und weiße Menschen sowie People of Color befinden sich auf dem Weg zur Arbeit, zu einer Verabredung, sitzen mit ihren Kindern im Park oder im Café. Mein Stadtteil ist bunt, und er ist sauber und grün. Ich setze mich auf die Stufen vor dem Eingang einer großen Schule, sie ist frisch renoviert. Mein Handy piept, es ist die Nachricht einer Freundin, fünf Daumen nach oben und ein einziges Wort: »Krebsfrei!« Ich bin froh und unendlich erleichtert. Offenbar macht sich die Förderung der Regierung bemerkbar, denn erstmals hat sie in die Entwicklung medizinischer Technologien für nicht-weiße Haut investiert. So konnte bei meiner Freundin der Hautkrebs früh erkannt und ihr das Leben gerettet werden. 

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Klingt gut oder? Leider ist das (noch) nicht die Wirklichkeit. Sondern die Vision eines Leben in einer Gesellschaft, die mich schätzt und anerkennt für das, was ich bin. Wer ich bin. Noch mehr: Die sich für meine Bedürfnisse einsetzt – weil ich ein selbstverständlicher Teil von ihr bin. Weil ich mitgedacht werde, und zwar in allen Belangen. Mit mir meine ich: eine junge, Schwarze Frau, deren tatsächlicher Alltag in diesem Land von Diskriminierung an jeder Ecke geprägt ist (Stichwort Shampoo!). Und die stellvertretend steht für so viele junge Deutsche mit Migrationsgeschichte oder deren Lebenslauf irgendwie abweicht von der Din-A-Deutsch-Norm.

Ich habe Sehnsucht. Aber ich bin überzeugt: Weit ist dieses Leben, nach dem ich mich so sehne, gar nicht entfernt. Es könnte in naher Zukunft zur Realität werden. Und zwar mit einer Regierung, die ihre Politik nicht in erster Linie für die deutsche Mehrheit macht. Sondern eine inklusive Politik für alle.

Wie das gehen kann? Ich glaube, dass sich dafür vor allem diejenigen verändern müssten, die die Politik machen. Sie müssten jünger sein und vielfältiger. Diverser. Es fängt ja schon mit der Zusammensetzung des Bundestages an: Nur knapp ein Drittel der Abgeordneten sind Frauen, das Durchschnittsalter liegt bei fast 50 Jahren. Nur etwas über acht Prozent der Politiker*innen im Bundestag haben einen Migrationshintergrund – im Vergleich zu rund 23 Prozent der deutschen Bevölkerung. Die Zahlen sprechen für sich, ich muss nicht erklären, warum Menschen wie ich selten bis nie mitgedacht werden in politischen Entscheidungen. Und warum wir deshalb so genervt und enttäuscht und müde sind von der Politik.

Was würde passieren, wenn wir in Deutschland das Wahlalter auf der Bundesebene von 18 auf 16 heruntersetzen würden? Laut dem Mikrozensus ist der Anteil der Personen mit Migrationsgeschichte höher, je jünger eine Altersgruppe ist. Wenn also jüngere Menschen wählen dürften, würde sich dadurch nicht automatisch die Zusammensetzung derer verändern, die die Entscheidungen treffen in diesem Land? Würden dann nicht häufiger die Bedürfnisse derer berücksichtigt, die jetzt so oft vergessen werden? Das betrifft ja nicht nur Schwarze Menschen, People of Colour und Menschen mit Migrationshintergrund, sondern auch Kinder, Frauen und Mitglieder der LGBTQ-Community.

Ich verstehe nicht, warum so viele Menschen diesen Zusammenhang nicht sehen wollen?

Ich sehne mich danach, dass meine Tochter (sollte ich mal eine bekommen) nach der Grundschule eine Empfehlung für das Gymnasium erhält. Dort begeistert sie ihre afrodeutsche Lehrerin für Physik. Nach dem Abitur bewirbt sie sich für Praktika in mehreren großen Ingenieurbüros, sie hat die Wahl, auch was im Anschluss ihr Studienfach angeht. Als ich gerade in Rente gehe, wird sie in den Vorstand eines DAX-Konzerns gewählt.

Bei dieser Zukunftssehnsucht wird der Wutkloß in meinem Bauch besonders groß. Denn einige der größten Herausforderungen unserer Gesellschaft könnten gerade Menschen mit Migrationsgeschichte lösen. Doch strukturell sind die Aufstiegschancen genau für sie ziemlich mies. Sie haben schlechtere Erwerbs- und Einkommensperspektiven, haben im Schnitt geringere Erfolge in der Schule, schlagen sich mit Racial Profiling herum. Und dabei bleibt das, was sie eigentlich können, oft auf der Strecke. Oder eher: Ihre Fähigkeiten werden begraben von Rassismus und Diskriminierung. Beides ist also nicht nur schlecht fürs Miteinander, es ist schlecht für die deutsche Wirtschaft. Ich verstehe nicht, warum so viele Menschen diesen Zusammenhang nicht sehen wollen?

Warum sie lieber tatenlos mit ansehen, wie unsere Gesellschaft immer einseitiger statt vielfältiger wird? Denn die Anzahl der Menschen über 67 Jahren wird bis zum Jahr 2040 voraussichtlich auf mindestens 21,5 Millionen steigen. Dagegen wird die Anzahl der 20- bis 66-Jährigen den Prognosen nach sinken. Ist es da nicht logisch, dass die Gruppe der jungen Menschen mit demokatischem Mitspracherecht durch ein niedrigeres Wahlalter erhöht werden müsste?

Mir ist klar, dass es mit dem Wahlalter alleine nicht getan ist. Uns jungen Menschen wird ja gern Politikverdrossenheit oder sogar Desinteresse daran vorgeworfen, und wenn man auf die Zahlen der Bundestagswahl Bundestagswahl 2017 schaut, dann sieht man, dass auch bei den sechs Millionen wahlberechtigten Deutschen mit Einwanderungsgeschichte die Wahlbeteiligung unterdurchschnittlich ausgefallen ist: Sie lag knapp zehn Prozent hinter der Wahlbeteiligung von Deutschen ohne Einwanderungsgeschichte. Haben Sie eine Idee, woran das liegen könnte? Ich schon. Daran, dass jungen Menschen und solchen mit Migrationsgeschichte das Gefühl gegeben wird, ihre Stimme sei eh egal. Womit sich der fatale Kreislauf schließt.

Heißt: Wenn man das Wahlalter senkt, müssten die Schüler*innen schon in der Schule lernen, wie gut und wichtig politische Teilhabe ist. Dass sie einen Unterschied machen können mit ihrer Stimme – und zwar einen Unterschied, der sich (im Gegensatz zu ein paar Sprachnachrichten auf dem Smartphone) bemerkbar macht in dem Viertel, der Stadt, dem Land, in dem sie leben. Dann könnte die Wahlbereitschaft unter jungen Menschen steigen. Auch bei jenen mit Migrationsgeschichte, und diese könnten es in die Generationen vor sich tragen. Und dann könnte irgendwann meine Sehnsucht nach einem normalen Leben mehr sein als nur eine schöne Vision. 

Glossar:

weiß: Wird kursiv geschrieben, denn weiß meint nicht lediglich den Hautton einer Person, sondern eine gesellschaftlich dominante Machtposition, die mit Privilegien verbunden ist.

Schwarz
: Wird groß geschrieben, da es, ebenso wie weiß, nicht den Hautton einer Person meint, sondern eine Selbstbezeichnung ist, die die politische und gesellschaftliche Positionierung einer Person beschreibt. Das Schwarze Subjekt ist gesellschafts-politisch und strukturell immer untergeordnet. Schwarz umfasst alle Personen(-gruppen) afrikanischer Herkunft.

People of Color
: Ist eine Selbstbezeichnung für unterschiedlichste Personen(-gruppen), die sich als nicht-weiß definieren. Diese können sehr heterogen sein und noch mal andere Selbstbezeichnungen verwenden, zum Beispiel:

Asian: Meint zumeist Personen mit ostasiatischem Erbe.
Desi: Ist eine Selbstbezeichnung von Personen mit südasiatischem Erbe.
Brown: Meint zumeist Personen mit südostasiatischem Erbe.
Latinx: Ist ein Sammelbegriff für Personen mit süd-/mittelamerikanischem Hintergrund. Die Endung x versucht, die Binarität (männlich/weiblich) der spanischen Sprache aufzubrechen.