Ich kann mich noch gut an den Moment erinnern, als wir in der Schule über Kolonialismus gesprochen haben. Das Thema wurde kurz mal angerissen, in etwa so: Die Briten segelten nach Afrika, raubten die Bodenschätze und die Menschen, Versklavung, Völkermord, Verschleppung nach Amerika waren die Folge. Alle inklusive des Lehrers schauten mich fragend an, als wäre ich dabei gewesen und könnte aus meiner persönlichen Erfahrung etwas dazu beitragen. Versammelt euch im Stuhlkreis, Kinder, ich erzähle euch, wie das damals war in Afrika! Als Schwarzes Kind galt ich automatisch als Expertin für die Geschichte eines gesamten Kontinents – eine Situation, die ich als unangenehm empfand und dennoch, wie viele andere Afrodeutsche, schon oft erlebt habe. Später fiel mir auf, was im Geschichtsunterricht nicht behandelt wurde, nämlich die deutsche Kolonialzeit. Warum eigentlich nicht?
Bis heute passiert es mir, dass abgewunken wird, wenn ich über deutsche Kolonien spreche: Im Vergleich zu Großbritannien oder Frankreich habe das Deutsche Reich nur relativ kurz Kolonien besessen, heißt es, das sei quasi nicht weiter der Rede wert. Wirklich? Bei der sogenannten Kongo-Konferenz, die 1884/1885 in Berlin stattfand, wurde Afrika sozusagen am grünen Tisch unter den europäischen Mächten aufgeteilt, und Reichskanzler Otto von Bismarck sicherte dem Kaiserreich einen Anteil. »Die Errichtung der deutschen Kolonien bildete die Voraussetzung für die nun erstmals in größerer Zahl stattfindenden Einreisen von Afrikaner*innen nach Deutschland«, schreibt die Historikerin Katharina Oguntoye in ihrem Buch Afrikanische Zuwanderung nach Deutschland zwischen 1884 und 1945. Schwarze Menschen sind also bereits seit dem Kaiserreich Teil der deutschen Gesellschaft.
In den Kolonien wurden viele Einheimische auf deutschsprachigen Schulen ausgebildet, sie arbeiteten als Dolmetscher für das Deutsche Reich oder wurden Teil der deutschen Kolonialtruppen, der sogenannten Askaris. Zehntausende von ihnen kämpften im Ersten Weltkrieg und erhielten dafür eine Rente, die teilweise sogar noch zu Zeiten der Bundesrepublik ausbezahlt wurde. Mit dem »Afrikanischen Hilfsverein« unterstützten sich Schwarze Menschen zu Zeiten der Weimarer Republik bei der Wohnungs- oder Arbeitssuche. Und schon damals gab es die Forderung nach Gleichberechtigung: »Wir verlangen, da wir Deutsche sind, eine Gleichstellung mit denselben, denn im öffentlichen Verkehr werden wir stets als Ausländer bezeichnet. Dieses muß von der jetzigen Regierung durch öffentliche Bekanntmachung beseitigt werden.« So lautete eine der Forderungen aus der »Dibobe-Petition«, verfasst von Martin Dibobe, der 1896 als Teilnehmer der ersten Deutschen Kolonialausstellung aus Kamerun nach Berlin gekommen war.
»Nur weiße Menschen können deutsch sein. Somit wird Schwarze Geschichte bis heute nicht als deutsche Geschichte wahrgenommen«
Martin Dibobes Enkelsohn, der Journalist und Schauspieler Theodor Wonja Michael, veröffentlichte im Jahr 2013 eine Autobiographie mit dem Titel Deutsch sein und schwarz dazu. Erinnerungen eines Afro-Deutschen – Pflichtlektüre für jeden, der sich für afrodeutsche Geschichte interessiert. (Er starb leider im vergangenen Herbst im Alter von 94 Jahren.) Theodor Wonja Michaels Familienhistorie zeigt, dass Schwarze Menschen bereits in der fünften Generation in Deutschland leben. Detailliert beschreibt er in seinem Buch, wie das Leben von Schwarzen Menschen während des Nationalsozialismus aussah: seine Pflegeeltern sahen in ihm einen Diener und zwangen ihn, als Kind in »Völkerschauen« aufzutreten; später musste er in kolonialen Propagandafilmen der Nazis mitspielen. Die in dieser Zeit in Deutschland lebenden Schwarzen wurden oft Opfer von Diskriminierung und Verfolgung. Infolge der »Nürnberger Gesetze« von 1935 wurden »Zi******, N**** und ihre Bastarde« nach rassistischen Kriterien erfasst, sie wurden teilweise zwangssterilisiert und oft in Konzentrationslagern interniert.
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg gab es weiterhin große Vorbehalte gegenüber Schwarzen Deutschen. Das betraf in Westdeutschland zum Beispiel Kinder, die aus afro-amerikanisch-deutschen Beziehungen hervorgingen, in der DDR bekamen die aus »sozialistischen Bruderstaaten« wie Angola, Mosambik und Namibia angeworbenen Vertragsarbeiter viel Ablehnung zu spüren. Trotzdem wanderten über die Jahre hinweg zahlreiche Afrikaner*innen nach Westdeutschland ein, sodass die afrodeutsche Gemeinde heute größer ist als je zuvor.
Angeregt unter anderem durch die US-Aktivistin Audre Lorde, entwickelte sich in den Achtzigerjahren unter vielen Afrodeutschen ein stärkeres Bewusstsein für Fragen der Geschichte und Identität. Damals entstand auch das wegweisende Buch Farbe bekennen, in dem ich zum ersten Mal den Begriff »Afrodeutsch« las – obwohl es schon seit hundert Jahren Schwarze Deutsche gab. Rassismus besteht eben nicht nur aus Springerstiefeln und Nazi-Pariolen; Rassismus zeigt sich auch darin, dass die Geschichte der Afrodeutschen totgeschwiegen wird. »Nur weiße Menschen können deutsch sein«, sagt die afrodeutsche Forscherin und Aktivistin Eva Apraku zum lange in Deutschland herrschenden Geschichtsverständnis. »Somit wird Schwarze Geschichte bis heute nicht als deutsche Geschichte wahrgenommen.«
Da die afrodeutsche Geschichte in den Schulbüchern fehlt, musste ich sie mir Stück für Stück selbst erarbeiten – und wurde so zwar nicht die Afrika-Expertin, die mein Lehrer und meine Mitschüler*innen einst in mir sahen, erfuhr aber eine Menge über die wechselhaften Lebensläufe Schwarzer Deutscher und über ihre kontinuierliche Ablehnung durch die deutsche Mehrheitsgesellschaft. Inzwischen denke ich, dass die afrodeutsche Geschichte essenzielles Grundwissen ist – für Schwarze Menschen, und für alle anderen, die hier leben. Warum, das hat der afro-amerikanische Historiker Carter G. Woodson, Gründer des Black History Month, einmal so erklärt: »Wenn eine ›Race‹ keine Geschichte hat, dann hat sie keine lohnende Tradition. Sie wird zu einem vernachlässigbaren Faktor im Denken der Welt, und es besteht die Gefahr, dass sie ausgelöscht wird.«
Glossar:
weiß: Wird kursiv geschrieben, denn weiß meint nicht lediglich den Hautton einer Person, sondern eine gesellschaftlich dominante Machtposition, die mit Privilegien verbunden ist.
Schwarz: Wird groß geschrieben, da es, ebenso wie weiß, nicht den Hautton einer Person meint, sondern eine Selbstbezeichnung ist, die die politische und gesellschaftliche Positionierung einer Person beschreibt. Das Schwarze Subjekt ist gesellschafts-politisch und strukturell immer untergeordnet. Schwarz umfasst alle Personen(-gruppen) afrikanischer Herkunft.
People of Color: Ist eine Selbstbezeichnung für unterschiedlichste Personen(-gruppen), die sich als nicht-weiß definieren. Diese können sehr heterogen sein und noch mal andere Selbstbezeichnungen verwenden, zum Beispiel:
Asian: Meint zumeist Personen mit ostasiatischem Erbe.
Desi: Ist eine Selbstbezeichnung von Personen mit südasiatischem Erbe.
Brown: Meint zumeist Personen mit südostasiatischem Erbe.
Latinx: Ist ein Sammelbegriff für Personen mit süd-/mittelamerikanischem Hintergrund. Die Endung x versucht, die Binarität (männlich/weiblich) der spanischen Sprache aufzubrechen.