Das Problem: Wie kann man erreichen, dass Proteste wie in den USA tatsächlich zu nachhaltigen Veränderungen führen?
Die Lösung: Studien zeigen, dass vor allem genug Leute mitmachen müssen, nämlich 3,5 Prozent der Bevölkerung. Gewaltfreie Proteste sind dabei mehr als doppelt so effektiv wie gewaltvolle Ausschreitungen.
Die Proteste gegen Rassismus, die derzeit in allen 50 US-Staaten und etlichen weiteren Ländern stattfinden, sind inzwischen eine der größten Bürgerrechtsbewegungen der Geschichte. Jeden Tag gehen Tausende auf die Straße, widersetzen sich den Ausgangssperren, singen und skandieren. Neben vielen bewegenden Szenen gibt es aber auch etliche verstörende Momente: Plünderungen, Krawalle und viel Polizeigewalt, etwa wenn wenn Polizisten in Kampfmontur einer Journalistin mit Gummigeschossen ein Auge ausschießen, friedlich Protestierende mit Metallstöcken verprügeln oder ihnen die Autoreifen zerstechen, wie in Minneapolis geschehen.
Was wird aus diesen Protesten werden? Wird es wirklich gelingen, den Rassismus zurückzudrängen? Oder werden sich am Ende wieder Hardliner wie Donald Trump durchsetzen, der gar nichts ändern möchte und friedliche Demonstranten lieber mit Tränengas und Gummimunition aus dem Weg schießen lässt, als mit ihnen zu reden?
Vor knapp 50 Jahren schrieb der US-Politikwissenschaftler Gene Sharp mit The Politics of Non-Violent Action die Bibel des gewaltlosen Widerstandes; inzwischen wurde das Buch in über 40 Sprachen übersetzt. Sharp führt darin insgesamt 198 Protestmethoden auf, von Petitionen über Schweigemärsche bis zu Streiks und Boykotten. Alles, was wir in den vergangenen Jahren gesehen haben, von den aktuellen Protestmärschen über Greta Thunbergs Schulstreik bis zu den spektakulären Aktionen von Extinction Rebellion, steht bereits in seinem Buch. Dass so viele Bürgerrechtsbewegungen Sharp als Mentor nennen, hat mit seinem Ansatz zu tun: Er war kein Idealist, sondern ein Pragmatiker des gewaltlosen Widerstandes, der detailliert recherchierte, welche Methoden am effektivsten sind. Manche nennen ihn den »Machiavelli des zivilen Ungehorsams«.
Sharps wichtigste Erkenntnis: Alle Regierungen, selbst Diktaturen, »brauchen die Mitwirkung der Menschen«, weil die sogenannten »Machthaber« letztendlich nur die Macht haben, die ihnen überlassen wird. Deshalb kann man sie mit Protest, Nichtkooperation und Intervention schwächen. Sharp hielt den gewaltlosen Widerstand sogar für effektiver als die Atombombe.
Bei gewalttätigen Protesten sieht Sharp dagegen in der Regel die Regierenden im Vorteil. Ein Grund: Sobald Gewalt im Spiel ist, ziehen viele sich zurück. Um Veränderungen zu erreichen, braucht eine Protestbewegung aber eine breite gesellschaftliche Basis. Zweitens: Sobald eine Seite Gewalt anwendet, steigt die Gewaltbereitschaft auf der anderen Seite, und da verfügt die Regierung mit Polizei und Militär über das schlagkräftigere Arsenal.
Gewaltloser ziviler Ungehorsam ist nicht nur moralisch überlegen, sondern auch in der Praxis erfolgreicher
Sharps Methoden wurden von der burmesischen Opposition ebenso angewendet wie von der serbischen Protestbewegung, die Milosevic stürzte, man findet sie bei den Studentendemonstrationen in China 1989 genauso wie im arabischen Frühling. Und deshalb sind seine Erkenntnisse nun so aktuell, wenn es um die Erfolgsaussichten der Black Lives Matter Bewegung geht. Wer gut englisch versteht, kann sich diese Brandrede von Kimberly Jones ansehen, die sagte, sie sehe drei Gruppen von Protestierenden: jene, die wirkliche Veränderungen in den Kommunen wollen, die Krawallmacher, denen es um Zerstörung geht, und die Plünderer.
Trumps Ruf, die aktuellen Demonstrationen müsse man möglichst martialisch niederschlagen und das Militär gegen das eigene Volk einsetzen, um der Sache Herr zu werden, ist längst wissenschaftlich widerlegt: Militärisches Vorgehen der Polizei provoziert und verstärkt nämlich Gewalt unter der Protestierenden. »Die Forschung zeigt deutlich: Wenn die Polizei bei solchen Ereignissen überreagiert, eskaliert sie damit eher die Empörung und die Renitenz, statt sie zu deeskalieren«, sagte Ed Maguire, Professor an der Arizona State University, dem amerikanischen Magazin Wired.
Aber vielleicht ist genau das ja gewollt. Hunderte von aktuellen Videoaufnahmen bei den Black-Lives-Matter-Märschen zeigen exzessive Gewalt durch Polizisten, die friedliche Menschen aus Autos ziehen, niederknüppeln oder im Vorbeifahren mit Tränengas benebeln. In Louisville, Kentucky, wurde ein schwarzer Restaurantbesitzer als Zufallsopfer von der Polizei erschossen; in New York fuhr die Polizei zwei SUVs direkt in eine Menschenmenge; der 75-jährige Rentner, den Polizisten in Buffalo zu Boden stießen, liegt mit einem Schädelbasisbruch im Krankenhaus.
Das sind bewährte Strategien, friedvolle Proteste kippen zu lassen. Dabei gäbe es längst bessere Methoden, Proteste friedlich im Zaum zu halten: etwa die »Madison-Methode«, die auf Kommunikation, Moderation, und das Beschützen der Leute als oberstes Prinzip setzt. Friedlich Protestierende werden dabei unterstützt, ihr Grundrecht auf Meinungsäußerung auszuüben, aber die Plünderer und Randalierer abgefangen.
Die Harvard-Politologin Erica Chenoweth wollte genau wissen, wie effektiv Gewalt und Gewaltlosigkeit in der Gegenwart sind. Gemeinsam mit Maria Stephan, einer Forscherin am International Center of Nonviolent Conflict (ICNC), analysierte sie Hunderte von Kampagnen der letzten hundert Jahre, und zog zwei wichtige Schlüsse. Erstens: Gewaltloser ziviler Ungehorsam ist nicht nur moralisch überlegen, sondern auch in der Praxis erfolgreicher. Chenoweth recherchierte, dass gewaltlose Kampagnen doppelt so oft erfolgreich sind wie Bewegungen, bei denen es zu gewaltanwendung kommt; wobei es für einen Erfolg natürlich noch andere Faktoren braucht, wie klare Ziele, gute Organisation, überzeugende Führung. Die zweite Erkenntnis: Die Forscherinnen fanden heraus, wie viele Menschen aktiv mitmachen müssen, damit ziviler Protest erfolgreich wird. Es sind im Durchschnitt 3,5 Prozent der Landesbevölkerung.
»Das klingt nach einer kleinen Zahl«, sagte Chenoweth in ihrem TEDx Talk, aber in Amerika wären das etwa 11,5 Millionen Menschen, also drei Mal soviel wie bei den Frauenmärschen 2017. »Können sie sich vorstellen, was passiert, wenn die alle 12 bis 18 Monate massenhaft nicht kooperieren? Dann sähe unser Land anders aus.« In Deutschland wären es knapp drei Millionen Menschen. Die müssen nicht alle auf die Straße gehen, aber sobald sich mehr als 3,5 Prozent der Bevölkerung engagieren, mitmarschieren, Petitionen unterschreiben oder bestimmte Verhaltensweisen verweigern, könne man genug Druck auf die Politik ausüben, dass der Erfolg fast unausweichlich werde, schreibt Chenoweth in ihrem Buch Why Civil Resistance Works.
Tatsächlich schoss die Zustimmung für Black Lives Matter seit dem gewaltsamen Tod von George Floyd fast senkrecht nach oben. 28 Prozent der Amerikaner unterstützen nun die Bewegung, und 76 Prozent der Amerikaner halten Rassismus plötzlich für ein ernstes Problem. Die Aktivisten haben in den letzten zwei Wochen erstaunlich viel erreicht, was noch vor einem Monat undenkbar gewesen wäre: Das Polizeidepartment von Minneapolis, wo Floyd ermordet wurde, wird aufgelöst; die in zahlreichen Videos dokumentierte Polizeibrutalität führte zu Konsequenzen für die Polizisten in Buffalo, Fort Lauderdale, Louisville und anderen Städten; Virginia, Alabama und weitere Staaten verschrotten die Denkmäler für ehemalige Sklavenhalter; und die Straße vor dem Weißen Haus heisst nun Black Lives Matter Plaza.
Für wirklich tiefgreifende Veränderungen im politischen System sollten Black-Lives-Matter-Aktivisten aber vor allem ruhig bleiben, trotz Tränengas und Gewalt von der Gegenseite. Gewalt, schrieb Sharp, »ist die beste Waffe deines Feindes.«