SZ-Magazin: Herr Sloterdijk, vor zwanzig Jahren sagten Sie: »Mir ist zumute, als wäre ich als Neugeborener gestorben. Seither führe ich ein zweites Leben, postmortal. Der Tiefenpsychologe Stanislav Grof hat mit Hilfe von LSD die subjektiven Geburtserfahrungen des Kindes aufgearbeitet: Da kommen Höllenstürze und apokalyptische Verzweiflungen vor, und dies nur auf den zwanzig Zentimetern, die das Kind zurücklegt, wenn es den Mutterschoß verlässt. Ich weiß, dass er in allem recht hat. Man kann zur Welt kommen, wie man in einem brennenden Flugzeug abstürzt. Mein Trauma war eine brennende Welt, in die ich langsam hineinfalle.« Gilt das noch?
Peter Sloterdijk: Letztlich ja, nur dass die Fallgeschwindigkeit sich verschärft hat – und die Hoffnung auf ein letztes Aufgefangenwerden hinzugekommen ist. Ich gehöre zu den wenig beneidenswerten Menschen, bei denen das Geburtsdrama im Körpergedächtnis nicht unauffindbar versiegelt ist. Es kommt gelegentlich herauf. In bösen Träumen oder in Augenblicken nervöser Überlastung sehe ich erdbebenartige Eruptionen, Tsunamis, die wehrlose Küsten überrollen, jäh explodierende, aus der Erde kilometerhoch emporschießende Atomfontänen oder Flugobjekte mit beängstigender Anmutung. Ihre Manöver am Himmel würde man eher mit fliegenden Untertassen und Angriffen von Außerirdischen in Verbindung bringen. In den Träumen erlebe ich diese Schrecken als unbezweifelbare Realität.
Franz Kafka kam bei der Abiturprüfung im Fach Deutsch über ein »befriedigend« nicht hinaus. Wie sah Ihre Schulkarriere aus?
Das Wort »Karriere« passt bei mir allenfalls zu dem Jahr vor der Abschlussprüfung. Damals bekam ich das Gefühl, Ernst machen zu sollen. Mit der erwachenden Ambition verstand ich in letzter Minute, dass ich ein viel einfacheres Leben gehabt hätte, wäre ich ein guter Schüler gewesen. Sobald ich per Autohypnose den Habitus des guten Schülers angenommen hatte, wurde ich im Modus sich selbst wahrmachender Prophezeiung wirklich einer und machte das bestmögliche Abitur. In den Jahren zuvor war ich schulisch mäßig, weil meine Haltung hochmütig und nachlässig war.
Wie waren Ihre Noten im Fach Deutsch?
Darin war ich gut. Ich konnte in relativ jungen Jahren skrupellos effektvolle Aufsätze schreiben, die schon so etwas wie einen eigenen Ton hatten. Besonders gern mochte ich den dialektischen Besinnungsaufsatz, wo man zwei widerstreitende Meinungen verteidigen durfte, um dann eine Schülersynthese zu produzieren. Da fühlte man sich schon wie der Juniorpartner des lieben Gottes: erst einmal die Aspekte objektiv darstellen und sie dann von einem höheren Standpunkt aus vereinen.
Bereits als 14-Jähriger benutzten Sie in Ihren Selbstgesprächen das Vokabular der Kantischen Philosophie, lasen Nietzsches Zarathustra und schrieben eine zusammenfassende Darstellung der philosophischen Gottesbeweise. Waren Sie Ihrer alleinerziehenden Mutter unheimlich?
Nein, die Mutter hat davon nicht viel mitbekommen und sich damit begnügt, Sohnemann jeden Morgen einen Teller Haferflocken mit Rosinen hinzustellen. Sie glaubte blind an die klug machende Wirkung von Haferflocken. Und da Natur durch Chemie ergänzt noch kräftiger wirkt, hat sie mir jeden Morgen Glutamin-Tabletten verabreicht, aus der festen Überzeugung, man werde davon superintelligent. Diese Art Apothekengläubigkeit habe ich von ihr übernommen. Man sollte unter seinen besten Freunden einen Apotheker haben.
Wie hat Ihre Mutter auf Ihre Selbstgespräche im Jargon von Kant reagiert?
Die waren stumm und innerlich. Das philosophische Selbstgespräch hat den Vorteil, dass man für die jugendübliche innere Zerrissenheit eine Form findet. Man gewöhnt sich daran, dass die Seele mehrstimmig ist, wie ein Parlament, in dem dauernd Misstrauensanträge verhandelt werden, gegen Wörter, Floskeln und Personen. Seit jungen Jahren produziere ich intern ein fortgehendes Konversationsstück. Wenn man früh entdeckt, dass es selbstreflexives Denken gibt, baut man Naivität ab – das hat für junge Menschen etwas Berauschendes. Du bekommst das Gefühl, da, wo andere Leute nur einen Gedanken haben, hast du zwei, drei und mehr. Das führt zu einer herablassenden Dis-tanz vom Gerede der Mitwelt und zu dem Stolz, nicht mehr zu den Naiven zu rechnen. Diesen Stolz habe ich bei meinen späteren philosophischen Lehrern wiederentdeckt. Drückt nicht jede Seite von Adorno genau diese Schwingung von Selbstzufriedenheit aus, die entsteht, wenn man innerlich einen Mehrwert an hochfliegender Reflexion erzeugen kann, während das Bodenpersonal sich mit Gedanken erster Ordnung beschäftigt?
Was waren Sie in den Augen Ihrer Mitschüler: ein Eierkopf und verhänselter Eckensteher oder ein bestauntes Wunderkind, das man bei den Hausaufgaben um Rat bat?
Mein Eindruck ist, dass ich als ganz normaler Schulkamerad wahrgenommen wurde. In der Klasse wurde jedem ein gewisses Maß an Kauzigkeit zugestanden. Ich war aufgrund der Ängstlichkeit meiner Frau Mama früh vom Schulsport befreit. Mit zwölf waren bei mir Herzrhythmusstörungen beobachtet worden. Von da an meinte sie, der Junge sei für so etwas Grobes wie Leibesübungen viel zu empfindsam. Schon damals gehörte das ärztliche Attest zur Waffe der Sensiblen. Einige Jahre lang war ich einer der überbehüteten Jungen, die von den Müttern nicht ohne Schal aus dem Haus gelassen werden. Ich entwickelte mich dennoch nebenbei im Selbststudium zu einem Weltklasse-Torwart, indem ich bei uns zu Hause stundenlang einen großen weißen Radiergummi gegen die Wand warf und hinter ihm her sprang. Ich hielt auch schwierige und scharf geschossene Bälle. Manchmal habe ich zu Hause Hochspringen geübt. Ich nahm eine Latte und versuchte, drüber weg zu kommen und auf meinem Bett zu landen. An Bewegung hat es also nicht gefehlt.
Ihren Nachnamen verdanken Sie Ihrem holländischen Vater, einem Matrosen und Fernfahrer, der sich ein paar Jahre nach Ihrer Geburt davonmachte. Haben Sie Namensspott erlebt?
Einige nannten mich Sloti, was ähnlich klang wie die Währung in Polen. Das hat mich nicht aus den Pantinen gehoben. Wenn ich Schlotter genannt wurde, war das schon eher korrosiv, weil man damit etwas Amorphes, Ehrenrühriges assoziieren konnte.
Warum sind Sie mit zehn Jahren aus dem Internat abgehauen?
Die kleine Flucht ging auf eine Gruppeninitiative zurück. Wir waren nicht gerade ein Club der toten Dichter, aber eine eingeschworene Truppe von drei Zehnjährigen. Als im Herbst die Kartoffelfeuer auf den Feldern brannten, haben wir gesagt: »Jetzt einfach los!« Nachdem wir von der Polizei aufgegriffen und wieder zurückgebracht worden waren, galten wir als die Helden des Heims, für zwei Tage.
Begabungsforscher meinen, es gebe einen Humus der Kläglichkeit, der allen großen Köpfen am Beginn ihres Lebens gemein sei. Was war mit 15, 16 Ihr Minderwertigkeitskomplex?
Früher, als man so etwas gern auf Griechisch ausdrückte, hätte man gesagt, ich sei leptosom gewesen, schwachleibig. Bei mir war der Blick in den Spiegel von jüngeren Tagen an eine hochmutsmindernde Maßnahme. Nie war ich sicher, ob ich mochte, was ich sah. Ich habe übrigens lang über Spiegel und ihre ego-technischen Wirkungen nachgedacht. Früher wussten die meisten Menschen nur vage, wie sie aussehen. Für sie galt die Regel, wie ich behandelt werde, so schaue ich aus. Erst in den letzten 200 Jahren sind wir in Europa zu Spiegelwesen abgerichtet worden. Auch deswegen haben sich bei modernen Menschen die moralischen Verhältnisse so von Grund auf verändert. Die Moral diente früher ja vor allem dazu, Menschen bescheiden zu machen, oder, wie es katholisch heißt, demütig. Primär wurde diese Aufgabe von den Religionen wahrgenommen, die der Selbstliebe einen Riegel vorschieben. Seit überall Spiegel angebracht sind, übernehmen sie diese Funktion und machen neun Zehntel der Population per se ziemlich kleinlaut. Die übrigen zehn Prozent sind die Problemgruppe. In der großen Mehrheit brauchen wir keine Moralpriester mehr, um unseren Hochmut zu dämpfen, sondern Kosmetiker, die uns in Sachen verpasster Schönheit Nachbesserung versprechen.
Hatten Sie Schülerlieben?
Die Frage habe ich befürchtet. Nun ja, die Sache mit den Mädchen versprach schon früh, eine größere Komplikation zu werden. Als ich 16 war, hob mein Großvater, damals schon in seinen Achtzigern, zu einer vertraulichen Erzählung an: Nachdem ich ja in reifere Jahre gekommen sei, könne er mir unter Männern mitteilen, dass er eine physische Anomalie darstelle, weil er immer noch potent sei. Der Satz fiel mir wie ein nasser Sandsack auf den Kopf. Mit 16 hat man ja ständig erotischen Überdruck. Ich dachte in Panik: Oh, mein Gott, das hört also nie mehr auf! Der Eros war damals eher eine Unglücksquelle. Wir waren Lichtjahre entfernt von den Verhältnissen, wie man sie heute etwa in Singapur antrifft, wo es an jeder Ecke Health Centers gibt, die nützliche Dienstleistungen anpreisen, unter anderem die, Passanten in überschaubarer Zeit von unpassenden Erektionen zu befreien.
Peter Handke schrieb als Internatsschüler an seine Mutter: »Mach dir keine Sorgen um mich. Ich werde sicher weltberühmt.« Hatten Sie ähnliche Gefühle?
Vermutlich hatte ich Vorgefühle einer nicht ganz alltäglichen Lebenskurve. Zwischen dem 19. und 21. Lebensjahr habe ich meiner Freundin täglich lange Briefe geschrieben, in dieser Korrespondenz müsste die Antwort auf Ihre Frage zu finden sein. Das Dumme ist, dass die Schöne eines Tages beschlossen hatte, unsere Beziehung sei für sie nicht mehr förderlich. Danach ist der Briefschatz im Badezimmerofen einer Kleinbürgerwohnung in der Nähe des Münchner Viktualienmarktes verheizt worden. Als ich mich später mit der großteils verlorenen Bibliothek von Nag Hammadi beschäftigt habe – die Mutter des Finders hatte die Bündel zum Teekochen benutzt –, dachte ich manchmal: Verdammt, dieses Papyri- und Briefeverbrennen ist doch wirklich eine typische Frauenunart!
Sie haben sich als Sohn eines Sitzenlassers bezeichnet und hinzugefügt: »Ich gehöre nicht zu der Generation, die ihren Vater gern umgebracht hätte, sondern zu der, die froh gewesen wäre, wenn sie vom Vater ein bisschen mehr gesehen hätte.«
In der Beziehung meiner Eltern lag ein starker Zug von Mesalliance. Meine Groß-eltern hatten zu ihrer Tochter gesagt: »Du hast den Kerl nach Hause gebracht, jetzt nimmst du ihn auch!« Was soll ein gescheites altes Mädchen von dreißig Jahren darauf schon Vernünftiges antworten, wenn man das Jahr 1945 schreibt? Mein Vater blieb in der Familie stets der Underdog. In seiner Abwesenheit wurde nicht respektvoll über ihn geredet, das tat mir nicht gut und machte mich illoyal ihm gegenüber. Er sprach ein raues proletarisches Holländerdeutsch mit vielen Kraftausdrücken und Godverdomme. Andererseits war es ein Glück, von der Vaterseite her fast ungeprägt aufzuwachsen. Ich habe keine Zeit mit antiautoritärer Dialektik verloren. Niemandssöhne genießen das Privileg der Selbstbevaterung. Mir blieb es erspart, wie Sartre es ausdrückte, gleich den unzähligen europäischen Aeneas-Imitaten mit einem Alten auf den Schultern durch das Leben zu humpeln.
Nachdem Sie 1974 Ihr Studium abgeschlossen hatten, haben Sie sechs Jahre lang mit Selbsterfahrungsangeboten experimentiert.
Die Luft in München war angefüllt mit Encounter-Kultur, Esoterik-Diskotheken, Meditationszentren und Psychogruppen, das Ganze mit kalifornischen Akzenten à la Urschrei and Company. An dem Karneval nahm die wohngemeinschaftsartige Gruppe, in der ich mich bewegte, sehr neugierig Anteil. In unsere Kreise war die Idee eingesickert, man müsse seinen perinatalen Schatten aufhellen, um als Mensch vollständig zu werden. Heute halte ich das, gebranntes Kind, das ich bin, für ein Spiel mit dem Feuer, und würde auf der ganzen Linie abraten. Man darf nicht ohne Not an das archaische innere Material rühren, denn psychotische Eruptionen kommen früher, als man glaubt. Wir aber hielten die Psychose für unsere beste Freundin, weil in ihr die größere Wahrheit wäre. Wir waren eine vom Wahrheitswahn getriebene Kohorte, die versuchte, ihre psychischen Schrauben zu verstellen.
Mit welchen Methoden?
Man schluckte LSD und schrieb Protokoll. Man machte etwas absolut Verrücktes, das sich Enlightenment Intensive nannte: Drei Tage lang hält man je eine halbe Stunde Kontakt mit einem von über einhundert Gruppenteilnehmern und sagt ihm fünf Minuten lang alles, was einem durch den Kopf geht. Dann wird gewechselt, reihum, und so quält man sich 16 Stunden lang voran, endlose Tage hindurch. Am Ende war man innen so blank wie eine neue Glattrohrkanone. Eine andere Technik bestand darin zu hyperventilieren, bis man in diese Art von Kampf-Atem gerät, der die Extremitäten steif werden lässt. Die Hoffnung war immer, dass das wahre Selbst dann doch gefälligst an die Oberfläche kommen müsse.
Im Dezember 1979 reisten Sie nach Poona in Indien, weil sie gehört hatten, dass dort ein Super-Guru aufgetaucht sei, »der von den Upanishaden bis zum deutschen Idealismus und Wittgenstein alles auf der Festplatte« habe. Nach vier Monaten im Ashram von Bhagwan Shree Rajneesh kehrten Sie als Sannyasin zurück.
Ich habe mir von diesem Guru die Mala mit seinem Porträt geben lassen. Das ist die Meditationskette mit den 108 Perlen, die angeblich die 108 bekannten Meditationstechniken reflektieren. Nach Poona war ich psychisch nicht mehr unter meiner deutschen Adresse erreichbar. Es begann etwas, was ich einmal die Osterweiterung der Vernunft genannt habe. Mit diesem Impuls kam eine tiefe Aufheiterung in mein Dasein. Ich war plötzlich befreit von dem psychosozialen Tiefdruckgebiet, das über meinem Leben und dem meiner Generation gehangen hatte.
Im Ashram wurde die freie Liebe praktiziert, da Sex als Erkenntniswerkzeug galt. Was haben Sie herausgefunden?
Was dort betrieben wurde, war naturgemäß das pure Ausagieren. Wäre Erkenntnis dabei gewesen, man hätte es ja früher oder später bemerkt. Im alten Indien hingegen gab es effektiv eine spirituelle Sexualpraxis, für die man sich auch im Westen interessierte, obwohl sie in unsere Welt kaum übersetzbar war – diese berüchtigten tantrischen Verfahren, die auf extremer Verlangsamung, hoher Zurückhaltung und respektvoller Ritualisierung beruhen. Davon halte ich übrigens nach wie vor sehr viel. Im Licht von Experimenten neige ich zu der Behauptung, dass neunzig Prozent der Sexualität, die hier als solche aufgefasst wird, nichts anderes als eine öde Rammelei bedeutet. Dass bei uns die meisten Männer, sogar die klügeren wie Arthur Miller, Philip Roth und andere Bett-Matadore, aus dem Stadium des grenzdebilen Rammlers nie herauskommen, ist die reale Tragödie unserer Kultur.
Wie oft haben Sie Bhagwan gesehen?
Wenn er nicht in silence war, wie man das damals ehrfürchtig nannte, konnte man ihn täglich von neun bis elf in der Großen Halle sehen und hören. Er stieg aus seinem lautlosen Auto, setzte sich auf seinen weißen Sessel, schloss eine Minute die Augen, dann kommentierte er mit infernalischem und seraphischem Humor die spirituelle Weltliteratur durch, von den heiligen Schriften der Inder bis zu Nietzsche, ohne Pause, ohne den geringsten Versprecher und ohne irgendwas abzulesen. Uns konnte das gar nie lang genug dauern, weil sein Indo-Englisch so kurios, so melodisch, so tiefsinnig war, und zugleich so narkotisch einfach.
Welche Sorte Humor hatte Bhagwan?
Der lag auf der Skala zwischen verheerend und liebevoll. Da gab es beispielsweise die inzwischen berühmte »Fuck Lecture«. Eine Schülerin, vermutlich aus England, hatte ihm geschrieben: »Dear Bhagwan, I feel shocked when I hear you use words like ›fucking‹. It hurts my religious feelings.« Das war sein Stichwort. Er erklärte ihr, dass religiöse Gefühle dazu da seien, verletzt zu werden, und dass die Engländer stolz darauf sein sollten, ein so vielseitiges Wort wie »fuck« zu haben. »And now listen« – dann führte er ihr fünfzig verschiedene idiomatische Wendungen von »fuck« vor mitsamt linguistischen Anmerkungen. Die Halle hat gebrüllt – und es war umwerfend, wie er ohne die Miene zu verziehen ein Beispiel nach dem anderen vom Stapel ließ. An seiner Genialität war kein Zweifel möglich. Und doch, wenn ich jetzt über ihn rede, ist mir zumute, als referierte ich eine Episode am Hof von Karl dem Kühnen aus dem Herbst des Mittelalters.
Hans-Jürgen Heinrichs, Autor einer fast 400-seitigen Biografie über Sie, hält Poona für die einschneidendste Zäsur Ihres Lebens.
Da ist etwas Wahres dran, aber noch folgenreicher für meine Entwicklung war eine 1983 begonnene halbglückliche Liebesaffäre. Als sie nach einem Dreivierteljahr plötzlich zu Ende ging, weil die Dame auf andere Gedanken gekommen war, trat bei mir eine einigermaßen dramatische Metamorphose ein. Monatelang konnte ich nicht aufhören zu trauern. Am Ende eines halben Jahres war ich ein anderer Mensch. Meine Erscheinung veränderte sich völlig. Bis dahin konnte ich essen, was ich wollte, ohne mehr als 75 Kilo zu wiegen, wie ein Sträfling aus einem Lager. Mit einem Mal war ein innerer Zaun zur Welt abgerissen. Ich wurde kräftiger, eines Tages wog ich 95 Kilo und später leider noch mehr.
Wie lange liefen Sie nach Ihrer Rückkehr aus Indien in orangefarbener Sannyasin-Tracht durch München?
Ungefähr zwei Jahre. 1984 hielt ich an der Münchner Akademie der Künste einen rhetorisch anspruchsvollen Vortrag. Er bestand in einer Serie von Hinweisen auf den Vortrag, den ich gehalten haben würde, wenn ich ihn ernsthaft hätte halten wollen. Das Ganze nannte sich »Taugenichts kehrt heim – Auch eine Theorie vom Ende der Kunst« – eine grammatische Übung auf dem Hochseil, frühromantisch überzogen und ziemlich frech. Ich trug einen orangenen Maßanzug und die Mala. Es war offen suizidal, doch der Auftritt funktionierte. Ich wollte einfach mal sehen, wie die Münchner Bildungsbürger rücklings auf den Hintern fallen.
Haben Sie je daran gedacht, über Ihre Erlebnisse in Poona zu schreiben?
Natürlich. Ich habe damals Tagebuch geführt. Es liegt ganz unten in einer der verpönten Schubladen. Es zu publizieren würde mir nie in den Sinn kommen. Ich müsste ständig erröten, weil es grauenhaft naiv ist. Mein Stolz als Autor würde rundheraus abstreiten, dass jemand wie ich diese Sachen je geschrieben haben kann. Der Trick wäre vielleicht, alles neu zu verfassen, fiktiv authentisch oder als die Geschichte eines anderen. Eventuell würde das die Wiederannäherung erlauben. Ich denke sowieso seit ein paar Monaten darüber nach, die Gattung zu wechseln und nur noch erotische Romane zu produzieren. Das wäre endlich mal was Konkretes!
Welche Romane taugen als Inspiration für ein solches Vorhaben?
Das Einhorn von Martin Walser finde ich immer noch anregend. Einen anderen Bezugspunkt könnte Harold Brodkey liefern, der in der Erzählung Unschuld Musil-artige Qualitäten erreicht. Hinreißend finde ich Die Fermate von Nicholson Baker. Die Grundidee des Buchs ist wahrhaft genial, wonach der Erzähler die Fähigkeit besitzt, die Zeit anzuhalten, um dann mit den stillgestellten Frauen zu machen, was ihm so einfällt.
Nach Ihrer Rückkehr aus Indien explodierte Ihr Ausdruckstrieb. In Ihrem Apartment in der Münchner Dollmannstraße schrieben Sie in weniger als zwölf Monaten Ihr fast tausendseitiges Debütwerk mit dem leicht größenwahnsinnigen Titel Kritik der zynischen Vernunft.
Bis dahin hatte ich ein Leben im Aufschub geführt, ich habe prokrastiniert, wie die jungen Leute heute so schön sagen. Ein Krebsverdacht im Jahr 1980 ließ mich ernst machen. Ich wurde entsichert, und die Produktion fing an. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie ich mich eines Morgens murmeln hörte, was ich gerade geschrieben hatte: »Seit einem Jahrhundert liegt die Philosophie im Sterben und kann es nicht, weil ihre Aufgabe nicht erfüllt ist.« Das war mein erster philosophischer Satz in der Sprache des Autors, der ich wurde. Da hörte ich meinen eigenen Ton zum ersten Mal. Die Schnelligkeit der Produktion hat mich selber überrascht. Das Buch kam fast fertig hervor. Als ich das Manuskript an Suhrkamp schickte, dachte ich, wer kann so ein Volumen absorbieren? Aber die Leser haben es aufgegriffen.
Ihr Buch wurde mit 150 000 verkauften Exemplaren zum bestverkauften deutschen philosophischen Werk nach dem Krieg. Wie wirklich oder unwirklich war dieser Senkrechtstart für einen damals 36 Jahre alten Niemand, der noch ein Jahr zuvor das Sannyasin-Gewand getragen hatte?
»Als Schriftsteller ist Sloterdijk Schopenhauer ebenbürtig«, hat ein Kritiker damals geschrieben. An dem Abend danach schläft man etwas tiefer als sonst. Je erfolgreicher das Buch wurde, desto mehr nahm zugleich die Feindseligkeit der Kollegen zu. So begann für mich die eigentliche Arbeit des öffentlichen Intellektuellen: sich durch Gegner nicht verzerren zu lassen.
Für Ihre linken Widersacher, so haben Sie es formuliert, sind Sie »ein Hybrid aus Dieter Bohlen, Muammar al-Gaddafi und Carl Schmitt«, der »kaltherzige Champagnerfeste mit den Bösmenschen« feiert. In der taz hieß es, an Ihnen könne man die »Verfallsgeschichte eines Ultrakonservativen« studieren.
Ich würde mit einer Frage antworten: Was haben diese Leute in den letzten dreißig oder vierzig Jahren getrieben? Haben sie von ihrer Lebenszeit klugen Gebrauch gemacht? Ich bezweifle das, da sie offensichtlich sitzen- und stehengeblieben sind. Kann das in turbulenten Zeiten die richtige Bewegungsart sein? Auf den Gymnasien möchte man ja das Sitzenbleiben abschaffen. Die schlechten Schüler des Zeitgeists haben es längst getan, ohne zu merken, dass sie auf den Bänken der Sechziger- und Siebzigerjahre kleben, wobei sie sich immer noch für die Vorhut halten.
Einer Ihrer erbittertsten Gegner ist Jürgen Habermas, der neben Ihnen bekannteste deutsche Gegenwartsphilosoph.
Er konnte es schon beim Erscheinen meines ersten Buchs nicht wirklich gut leiden, dass es auf dem Feld der Philosophie im Land eine nicht leicht einzuordnende neue Stimme gibt. Er machte aber anfangs noch gute Miene zum ungewohnten Spiel. Ihm wäre es lieber gewesen, Hans Magnus Enzensberger hätte die Kritik der zynischen Vernunft unter dem Pseudonym P. Sl. geschrieben, wie einen literarischen Scherz im Überformat. Dann hätte er keinen noch undefinierten Anwärter für das Amt eines öffentlichen Intellektuellen auf seinem Radarschirm positionieren müssen. Dass seine Haltung sich mit den Jahren vom Unbehagen zur Feindseligkeit entwickelte, ist eine Anekdote, die zur jüngeren Ideengeschichte der BRD rechnet.
Habermas ist 85 Jahre alt. Wird er noch seine Hand zur Versöhnung ausstrecken?
Vermutlich nein.
Und Sie?
Wenn Putins Truppen den Rhein erreichen, und es kommt ein Telegramm aus Starnberg, ob wir nicht gemeinsam eine Erklärung der Intellektuellen über die Rückkehr zu nicht-militärischen Lösungen signieren sollten, würde ich meinen Namen neben den seinen setzen.
» Auf meine älteren Tage merke ich, wie viele Aufmerksamkeitssünden man im Leben anhäuft. Aber die trage ich noch ab, versprochen!«
Sie schreiben seit 42 Jahren jeden Tag Notizen in DIN-A4-Hefte mit jeweils 192 Seiten Umfang. Bei welchem Heft sind Sie angelangt?
Das aktuelle hat die Nummer 125.
In Heft 100 heißt es: »Hätte der Neoliberalismus Titten aus Zement, er sähe aus wie Heidi Klum.« Prosten Sie sich bei solchen Bonmots innerlich zu?
Solche Sachen notiere ich völlig nebenbei. Meine innere Redaktionsstube ist immer besetzt. Einer hat Journalwache. Der schreibt auf, was reinkommt.
Bei Ihnen lernt man, dass Politiker auf Suaheli »wabenzi« heißen, »Leute im Mercedes-Benz«, und dass der junge Freud als Physiologe über die Hoden des Aals gearbeitet hat. Können Sie Licht in Ihre mirakulöse Belesenheit bringen?
Der Eindruck von Belesenheit ist eine Nebenwirkung der kontinuierlich besetzten inneren Redaktion. Da gibt es immer einen freien Mitarbeiter, der für ankommende Kuriosa zuständig ist und sie abheftet. Vielleicht bin ich auch ein bisschen der Lexikon-Mann. Materialreichtum ist eines meiner Markenzeichen. Ich schreibe immer im Zwiegespräch mit einer Bibliothek. Hierin bin ich mit Hans Blumenberg verwandt. Meine Frau hasst das, sie meint, es sei ein Ausweichen ins Historische. Ich sehe das aber ganz anders. Zu meiner Autorenethik gehört, dass ich Zitate nicht kleiner drucken lasse als den eigenen Text. Die Germanisten-Halunken und die Soziologen-Canaille erkennt man daran, dass sie Sätze von Goethe und Max Weber zwei Punkte kleiner setzen lassen.
Was können Sie sich leichter merken: Menschen oder Zitate?
Böse Frage. Ehrlicherweise Zitate, vorausgesetzt sie haben Prägnanz-Qualität. Ich behalte dann auch manchmal die Situation, in der ich das erste Mal von einer Formulierung frappiert werde. Vor gut einem Jahr fuhr ich mit dem Zug nach Weimar und blätterte in einem Buch mit englischen Geis-tesblitzen – ich mag Zitatenbücher gern. Der Titel des Buches ist If Ignorance Is Bliss, Why Aren’t There More Happy People? Smart Quotes for Dumb Times. Ich stieß auf ein Zitat, bei dem ich eine Viertelstunde lang von einem Lachkrampf geschüttelt wurde. Die Leute im Zug guckten mich befremdet an. Das betreffende Bonmot hatte ein Sprecher Ronald Reagans zum Besten gegeben: Der Präsident lege Wert auf die Feststellung, »er färbt sich nicht die Haare. Er ist nur vorzeitig orange geworden« – he’s just prematurely orange.
Haben Sie jemals einem Menschen so viel Liebe, Zuneigung, Geduld und Leidenschaft entgegengebracht wie Ihren Büchern?
Das habe ich noch vor mir. Und ich lerne schnell! Auf meine älteren Tage merke ich, wie viele Aufmerksamkeitssünden man im Leben anhäuft. Aber die trage ich noch ab, versprochen! Vor dem Purgatorium graust es mir.
Wie viele Stunden lesen Sie am Tag?
Vielleicht vier, fünf, eher weniger, denn ich lese langsam und absorbiere.
Lesen Sie gedruckte Zeitungen und Magazine?
Als Papierpresse-Leser bin ich nur noch in Zeiten gut, in denen ich viel reisen muss. Da wird mir am Frankfurter Flughafen das Material aufgedrängt, wonach Sie fragen. Ansonsten ist der Computer das Universalgerät geworden.
Muss ein deutscher Professor das Feuilleton der Zeit lesen?
Früher ja. Heute ist es wegen der Anbiederung an die Massenkultur fast unbrauchbar geworden. Ich profitiere mehr vom Reizklima der Kunst-Universität, die ich leite. Fast jeden Tag kommen zwei, drei Kollegen zu mir nach Hause und werden, wenn sie nett sind, von mir bekocht. Ihre Gastgeschenke bestehen in dem, was sie gerade im Kopf haben. Neben den Karlsruher Tischgesprächen klingt das Zeit-Feuilleton wie eine Schülerzeitung.
Klicken Sie regelmäßig bestimmte Websites an?
Ich fahre hin und wieder auf »Die Achse des Guten«, wenn ich Lust habe, den Kopf zu schütteln, oder zu »Telepolis«, wenn ich Sympathisches haben will. Das mit Abstand Brauchbarste im Netz ist »Arts & Letters Daily«, ein anglophoner Super-Perlentaucher. Damit entgeht mir kein intelligenter Satz, der irgendwo in der Welt auf Englisch geschrieben wird.
Facebook? Twitter?
Es genügt mir, wenn meine Tochter das benutzt.
Ist Schreiben für Sie wie das Gleiten in eine warme Badewanne, oder erleben Sie Verzweiflung?
Ich arbeite nur, wenn es leicht geht. Ich würde es als Belastung empfinden, wenn im fertigen Stück ein Krampf spürbar ist. Ich bin ja mein erster Leser, der will was für sein Geld.
Sie veröffentlichen jedes Jahr ein neues Buch, leiten die Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, lehren als Professor für Philosophie und Ästhetik und sind als Vortragsreisender zwischen Abu Dhabi, Stanford und dem niederländischen Königshof unterwegs. Trotz dieses permanenten Produktionsrausches gibt es, schrieben Sie, eine dämonische Stimme in Ihnen, die sagt, in Wahrheit seien Sie eine faule Socke.
Dieses Paradox würde ich mir gern mal von jemandem erklären lassen. Wahrscheinlich hat es mit der unklar besetzten Vaterposition in meinem Inneren zu tun. Gemäß Neuem Testament muss doch irgendwann mal über mir eine Taube erscheinen und eine Stimme vom Himmel ertönen: »Dies ist mein Sohn, an dem ich ein Wohlgefallen habe.« Hätte ich je so eine Stimme gehört, wäre ich wahrscheinlich ruhiger geworden. So aber lebe ich unter dem Auge eines großen Anderen, den ich mit nichts von allem, was ich tue, überzeugen kann. Meine Zweifel am Genügen der eigenen Leistung sind vermutlich die dunkle Seite der Vater-Absenz. Wenn einer, der da sein sollte, so hartnäckig abwesend ist, kommt man nicht darum herum, in sein Fehlen eine schreckliche Missbilligung hineinzulesen.
Zu Ihrem Fernsehverhalten sagten Sie: »Ich benutze das Fernsehen als Gleichgültigkeitsmaschine. Ich schaue so lange auf den Bildschirm, bis der gefühlte Unterschied zwischen einem Papst-Segen, einer pornografischen Dauerwerbesendung und einem Bericht über die Fauna von Madagaskar gegen null geht. Dann ist der Zustand erreicht, in dem das Gehirn bereit ist, sich für ein paar Stunden von der Welt zurückzuziehen.« Geht es Ihnen immer noch so?
Es ist vorbei. Ich sehe fast überhaupt nicht mehr fern. Ich habe mir zwar erst vor einem Jahr einen richtig guten High-Definition-Flachbildfernseher gekauft, aber nur um festzustellen, dass ich ihn nicht brauche. Ich schreibe jetzt nachts lieber Briefe oder lese im Netz. Das Verschwinden des Fernsehens aus meinem mentalen Ökosystem hat unter anderem den Grund, dass ich nichts mehr erleben will. Ich möchte auch keine unerbetenen Erlebnisvorschläge rezipieren. Das TV-Bild soll ja in Wahrheit nie informieren, sondern invasiv gegen den Betrachter vorgehen. Ich verstehe immer besser, warum Marshall McLuhan das Fernsehen als ein taktiles Medium bezeichnete. Früher kam mir diese These mysteriös vor, jetzt weiß ich eher, wovon die Rede ist. Das Fernsehen rührt den Zuschauer an, als würde eine Hand aus dem Bildschirm hervorkommen, um an den Einstellknöpfen unseres Gemüts zu drehen. Das lasse ich nicht mehr zu.
Warum wollen Sie nichts mehr erleben?
Wenn ich auf Erlebnisse aus bin, versäume ich die Verabredung mit dem Realen.
Meditieren Sie heute noch?
Indirekt, als Radfahrer.
Sie fahren mit Ihrem Tourenrad bis zu 130 Kilometer am Tag und nennen sich einen »Velomanen«.
Ich fahre mir davon in der Hoffnung, als jemand zurückzukehren, der nicht identisch ist mit dem, der weggefahren war. Die Utopie beim Radfahren ist, dass man irgendwann schneller wird als die schädlichen Gedanken, die die freie Kapazität der Großhirnrinde in Beschlag nehmen. Meine Erfahrung sagt mir, dass man nach reichlich einer Stunde an die Grenze kommt, wo der parameditative Zustand eintritt. Man fährt dann seinem alten Adam ein paar Meter davon. Ich behaupte, der heimkehrende Radfahrer ist ein besserer Mensch. Jedenfalls ähnelt er weniger dem Neurotiker, der sich auf den Sattel geschwungen hatte.
Mit Blick auf Ihr Haar haben Sie sich mal »den unfrisierbaren Oger« genannt und eine schöne Anekdote erzählt. Bei einer Podiumsdiskussion in Paris fragte Sie ein Zuhörer: »Seit wann ist Ihr Frisör im Gefängnis?« Die treffende Antwort fiel Ihnen erst beim Zubettgehen ein: »Seit 1968. Sieht man das nicht?«
Der zweite Teil der Geschichte ist keine Fiktion. Ich war tatsächlich seit Langem nicht mehr wirklich beim Frisör. Ich schneide mir die Haare selbst, wie man sieht mit bedenklichen Ergebnissen, manchmal macht es eine Freundin – ganz selten ein Prominenten-Figaro in Wien, der Strähnen sammelt wie Reliquien. Vor Fernsehsendungen hat auch mal die eine oder andere Visagistin wegstehende Haare nachbehandelt. Diese Damen haben den nötigen Charme, um einem sagen zu dürfen, ein professioneller Handgriff hier und da wäre vielleicht sinnvoll.
Ist Ihre Frisur eine Schrulle oder Image-Design?
Meine Gleichgültigkeit gegen Frisur ist wohl ein 68er-Erbstück, das ich über die Jahrtausendgrenze mitgeschleppt habe. Ich glaube auch nicht, dass ich noch einmal zu einem akzeptablen Haarschnitt bekehrt werden kann. Dass man dann öfter aussieht wie ein ungarischer Hirtenhund, stört mich nicht.
Sie sind in dritter Ehe mit der Österreicherin Regina Haslinger verheiratet, einer Kulturwissenschaftlerin, die früher Ausstellungen konzipierte und heute als Psychotherapeutin arbeitet. Als Sie ihr den Heiratsantrag machten, mussten Sie feststellen, dass sie bereits eingeschlafen war. Hatte Nietzsche recht, als er schrieb: »Ein verheirateter Philosoph gehört in die Komödie«?
Regina Haslinger und ich haben keine Affäre aus unserer Hochzeit gemacht, weil wir schon seit sieben Jahren liiert waren. Dazu kommt, dass unsere Tochter seit drei Jahren auf der Welt war. Uns kam die Ehe mehr wie ein Nachvollzug der Tatsachen durch die Schriftsachen vor. Ansonsten sind wir bestimmt keine Ehe-Ikonoklasten. Übrigens gehören alle Geisteswissenschaftler in die Komödie, ob verheiratet oder ledig.
Sind Sie in Liebesangelegenheiten ein nutty professor?
Sie meinen den Intellektuellen, der am Morgen aus Versehen das Frühstücksei küsst? Manchmal. Das gehört zu dem Thema der Aufmerksamkeitsschulden, die man im Laufe seines Lebens gegenüber den lieben Menschen akkumuliert.
Sie haben mit Ihrer Frau eine 20-jährige Tochter. Als sie 15 war, sagten Sie: »Meine Tochter ist der Hochkultur gegenüber sehr tolerant.« Hat sie eine Affinität zur Philosophie?
In meinen Augen hat sie eine kluge Entscheidung getroffen, als sie beschloss, Psychologie zu studieren, die jüngere Schwester der Philosophie, in Berlin obendrein. Das reicht, um die Affinität zur Welt des Vaters aufrechtzuerhalten. Neuerdings schreibt sie mir fast jeden Tag E-Mails über das, was sie erlebt und denkt. Ein besonders schönes Stadium unserer Beziehung hat begonnen.
Liest sie Ihre Bücher?
Vielleicht schaut sie hin und wieder in eines vorsichtig hinein. Manches findet sie interessant, das meiste etwas schwierig. Interviews hat sie lieber. Die liest man in fünf Minuten, dann kann man den Herrn Papa zusammenfalten und in die Handtasche stecken.
Das Schlusskapitel Ihres jüngsten Buches Die schrecklichen Kinder der Neuzeit beginnt mit dem Satz: »Mit der sich selbst erfüllenden Prognose der rhizomatischen ›Gesellschaft‹ in der anarchistisch-wahrsagerischen Para-Psychiatrie des Poststrukturalismus ist die anti-genealogische Basistendenz der Neuzeit – als Summe aller Subversionen, Reklamationen, Verweigerungen, Usurpationen, Aspirationen und Hybridisierungen – in ihr Mündungsgebiet gelangt.« Ist Philosophie
vielleicht doch die Übertragung des Unsagbaren ins Unverständliche?
Das könnte man gelegentlich so sehen. Der Satz scheint eine Zumutung zu sein, doch soll er genau so klingen, wie er klingt, jede Silbe steht an der richtigen Stelle. Mir gefällt er, vielleicht auch nur, weil ich noch ungefähr weiß, was ich sagen wollte. In einem Schlusskapitel macht man den Sack zu. Was darin rumkrabbelt, ist ja vorher auf 400 Seiten in einer ziemlich leserfreundlichen Form ausgebreitet worden. Dann kann man sich eine Verdichtung leisten.
Wie lange formulieren Sie an so einem Satz?
Der stürzt fertig heraus.
Was soll jemand von Ihnen lesen, der noch nie von Ihnen gehört hat?
Scheintod im Denken. Von Philosophie und Wissenschaft als Übung. Das war die Unseld Lecture 2009 an der Universität Tübingen, die ich zu einem kleinen Buch ausgearbeitet habe. Darin steckt viel von dem, was ich in meinem Metier am liebsten tue: anlaufen, abfliegen, ein paar Manöver ausführen und auf den Punkt landen. Man könnte auch
sagen: etwas von ganz weit herholen und
zuletzt zur Sache kommen.
Angenommen, Sie können einen toten Philosophen treffen: Auf wen fällt Ihre Wahl, und was fragen Sie?
Ich habe keine Fragen an tote Philosophen, ausgenommen an Fichte, mit dem ich nicht ganz fertig bin. Es gibt aber einen Denker, den ich für den bedeutendsten des 20. Jahrhunderts halte, obwohl fast niemand ihn kennt: Gotthard Günther. Mit ihm würde ich gern über mehrwertige Logik reden und die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, sie
mit der zweiwertigen Alltagsvernunft in ein überschaubares Verhältnis zu setzen.
Was war die nachhaltigste philosophische Lektion, die Sie von Ihrer Tochter erhalten haben?
Die Lektion, die von ihr kam, war nicht philosophischer Art, sie führte zur Gewahrwerdung eines Schwindels, dem ich bis zu meinem 47. Lebensjahr, 1993, ihrem Geburtsjahr, erlegen war. In meinem Milieu war ich umgeben von Leuten, die von der Fortpflanzung abrieten, ausnahmslos: »Kinder? Herrje! Bloß nicht! Schlaflose Nächte, endloses Geschrei, geborene Tyrannen – du kommst zu nichts mehr!« Ich stellte fest, in dieser Angelegenheit war ich immer irregeführt worden, rundum. Nicht ein einziger Mensch hatte mir verraten, dass es nichts Wundervolleres gibt. Meine Frau und ich waren über das Kind unvorstellbar froh. Die ersten zwei Jahre lebten wir in einem Delirium. Ständig haben wir gejubelt, und die Kleine mit uns. Die Lektion bestand darin, dass man sich vom Erwachsensein erst einen halbwegs realistischen Begriff macht, wenn man in der Elternposition angekommen ist. Sonst wird man nur älter, aber erwachsen nie. Andererseits: Erwachsenheit ist ein schwieriger Begriff, man sollte mit ihm nicht renommieren.
»Die natürliche Anarchie des Kindes«, schreiben Sie, »ruft den natürlichen Konservatismus der Eltern hervor.«
Ich denke über das Wort »konservativ« in letzter Zeit anders als früher und beklage die Situationen, in denen dieser Begriff als Schimpfwort gebraucht wird. Andauernd nicht-konservativ sein: Das würde ja heißen, alle Menschen der progressiven Tendenz müssen sich zu der Stümperei der ständigen Neuanfänge bekennen. Wer ständig fortschreitet, geht über zu viel hinweg. Die Welt ist so reich an Vollendungen, dass ich nur durch den Verrat am Vollkommenen fortschrittlich bleiben könnte. Früher dachte ich, Konservatismus sei nur in zwei Fällen plausibel: Wenn du eine Bibliothek hast mit allem Wesentlichen in Leder, oder einen Weinkeller mit denkwürdigen Tropfen aus Jahrzehnten. Ansonsten wäre ausnahmslos immer Progressivität verpflichtend. Ich überzeuge mich mit jedem Lebensjahr mehr davon, wie verfehlt diese Ansicht war. Man muss täglich konservativer werden, damit man rezeptiver wird für die Werke, die auf uns warten. Die meisten Menschen von heute, darunter erschreckend viele Künstler, lassen freiwillig das Beste links liegen, weil sie selber etwas Schlechteres, aber Eigenes, vorhaben.
Martin Walser meint, es gebe Weine, gegen die jede menschliche Gesellschaft Barbarei sei. Falls Sie das unterschreiben, nennen Sie bitte einen.
Was Sie von Walser zitieren, sagen die Alleintrinker. Was gemeint ist, könnte ich verstehen, doch empfinde ich anders. Wenn ich einen großen Wein vor mir habe, möchte ich jemanden haben, mit dem ich andächtig werden kann. Gelegentlich passiert das. Ich habe mit meinem Freund Wolfgang Rihm vor Jahren eine Flasche Romanée-Conti La Tâche Grand Cru 1991 getrunken, ein märchenhaftes Höchstgewächs aus Burgund, Geschenk eines seiner Bewunderer. Ich weiß es noch ganz genau: Wir saßen in seiner Küche am Tisch. Er schenkte ein, wir hoben die Gläser. Danach haben wir uns gegenseitig angeguckt – bis einer von uns sagte, ich weiß nicht mehr wer: »So was dürfte man eigentlich nur im Stehen trinken.«
In Ihrem Journal schreiben Sie: »Gäbe es das Auge Gottes, was würde es heute beobachten? 7 Milliarden homines sapientes meist ohne besondere kognitive Vorkommnisse, 700 000 Kreative, deren Output die Evolution treibt, 700 Pulsare auf genialer Frequenz, deren Namen man später in Kulturgeschichten findet, 7 seraphische Intensitäten, deren innere Prozesse auch für Gott informativ sind.« Zu welcher Gruppe zählen Sie sich?
Das Auge Gottes dürfte sich wundern, was ich über seine Sicht alles weiß. Vielleicht würde es für mich ein Feld extra aufmachen, um mich schärfer zu überwachen.
Sie spekulierten, dass Sie, wären Sie noch mal 18, Pfarrer würden.
Habe ich das gesagt? Mir stehen die Haare zu Berge! Mein Lieblingsautor zu diesem Thema ist Sören Kierkegaard. Er wäre vielleicht fähig zu erklären, was ich gemeint haben könnte. Im Jahr 1848 veröffentlichte Kierkegaard einen Aufsatz, kaum sechs oder sieben Seiten lang, von einer Luzidität, die alle Bibliotheken Roms und Wittenbergs überstrahlt. Den lese ich fast jedes Jahr unter fast zeremoniellen Umständen wieder: Über den Unterschied zwischen einem Genie und einem Apostel. Danach weiß man erst, was Autor-Sein in heutiger Zeit bedeutet. Nach Kierkegaard genügt der genialische Künstler allein den selbstgesetzten Maßstäben und den immanenten Gesetzen seiner Disziplin. Sein Lohn ist humoristische Selbstzufriedenheit oder die Bewunderung anderer. Wer hingegen Apostel ist, agiert unter einem absoluten Mandat. Der apostolische Beruf belohnt sich anders als der ästhetische, notfalls auch mit der Art von erlesenem Misserfolg, die man Martyrium nennt. Ein solches Mandat kann man nicht vorweisen, wenn man seine Botschaften selber in die Maschine tippt, ohne einen göttlichen Absender hinter sich zu wissen. Ich kann ja nicht an der Tür der Leute klingeln: »Ich hätte da ein Evangelium günstig, das sollte Sie interessieren. Der Verfasser bin übrigens ich persönlich.« Hier beginnt das moderne Autorenproblem: Ein bisschen Genie, das stellt man zur Not selbst auf die Beine. Ein paar Creative-writing-Seminare, und fertig ist der Jungautor. Aber ein Apostolat, ein echtes Mehr an Zu-sagen-Haben, wie kann das außerhalb der Kirchentradition entstehen? Sartre hatte gemeint, er könne die Frage mit seiner Lehre vom freien Engagement beantworten. In Wahrheit war er dem Problem ausgewichen.
Philosophen sind in der Regel unglückliche Naturen. Wie erfolgreich betreiben Sie für sich selbst das Projekt Aufheiterung?
Über Jahrzehnte mit beachtlichen Ergebnissen, bis ich vor einem Jahr durch den Tod einer engen Freundin an den Abgrund geführt wurde. Ich habe das Drama vom Tag der fatalen Diagnose an über zwei Jahre hinweg bis zum Ende miterlebt. Lange befand ich mich in einem Trauertunnel, ohne Horizont, morbiden Gedanken ausgeliefert. Damals hat mich die Arbeit gerettet, und die Tatsache, dass Freunde und andere gute Geister täglich da waren.
Kennen Sie mit 67 Jahren so etwas wie Denk-Akne oder Erkenntnisekel?
Nein, aber den typologischen Bruder von Erkenntnisekel, den schwarzen Kitsch, den kenne ich, und gegen den empfinde ich Misstrauen. Ich hab ihn selber zeitweilig probiert. Man kann seine Erkenntnisse mühelos so dunkel einfärben, dass man zu einem philosophischen Gothic-Autor wird, so wie die Geheimtipps der Theorie-Jugendszene heute zwischen Paris, London und Berlin sich gern präsentieren. Auf diese Entwicklung habe ich verzichtet. Besser schien mir, der Sentimentalität den Vortritt zu lassen. Ich habe mich auf dem zweiten Bildungsweg von einem natürlichen Pessimisten zu einem künstlichen Optimisten entwickelt.
Sie leiden an etwas, was Sie »Hochsommernervenkrisen« nennen. Was sind das für Zustände?
Seit fast dreißig Jahren gerate ich 14 Tage vor meinem Geburtstag Ende Juni endogen in Verdüsterungen, die dazu führen, dass ich mit Migränen kämpfe und kotzen möchte. Dieser Zusammenhang von Sommer und Stress von innen ist die anscheinend am wenigsten auslöschbare Komponente in meiner Privatmythologie.
Wenige Tage vor seinem Tod schrieb Frank Schirrmacher in einer SMS an Mathias Döpfner, er wolle sich künftig mehr um »die adriatische Stimmung des Lebens« bemühen. Ihnen schwebt seit vielen Jahren ein Buch vor, das zeigen soll, dass Wahrheit nicht eine Eigenschaft von Sätzen ist, sondern von Sommertagen.
Die Entwicklung einer mediterranen Stimmung auf deutschem Boden wäre Schirr-machers bester Plan geworden. Von dem Moment an wären wir offene Komplizen gewesen. Er hatte aber gleichzeitig diese napoleonische Komponente im Leib. Die drückte sich darin aus, dass er es auch mit dem Wenig-Schlafen übertreiben musste. Er hatte den Mythos verinnerlicht, dass ein großer Chef fast nie schläft. Auf dem Gebiet der Überanstrengung ist Schirrmacher weit gegangen. Außerdem wählt man, wenn man Symptome hat wie die seinen, die 112. Sein verfrühter Tod hat mir enorm leid getan, nachdem ich ihn in den letzten zwei, drei Jahren besser kennengelernt hatte. Mit einem Mal erschien er mir von einer Ernsthaftigkeit und menschlichen Zugewandtheit, die ich zuvor bei ihm nicht wahrgenommen hatte. Bis dahin fand ich sein Auftreten etwas zynisch, und auf seinen früheren babyfacehaften Ausdruck konnte ich mir keinen Reim machen. Unser gemeinsamer Freund Hans Ulrich Gumbrecht hat mir aber erklärt, das sei seit jeher eine optische Täuschung gewesen. Er selbst habe Schirrmacher über Jahrzehnte hin immer im Vollbesitz seines echten Elans erlebt. Gumbrecht hat die Formulierung geprägt, Schirrmacher habe vor Begeisterung über seinen Beruf vergessen, die Kindheit abzulegen.
Zu den Aufgaben großer Philosophen gehört es, Schüler zu haben. Gehen aus Ihrem Umkreis Originale hervor oder nur 600-seitige Dissertationen?
Doktorarbeiten habe ich auf das Format von 300 Seiten und weniger zurückgedrängt. Studenten verstehen nach und nach, dass es indezent wäre, darüber hinauszugehen. Es war auch nie mein Interesse, eine Schule zu bilden. Schwache Abschreiber gibt es genug in der Welt – und was ist Schule anderes als ein Synonym für blasses Abschreiben? Ich unterrichte in dem Bewusstsein, etwas nicht Unterrichtbares zu lehren. Ich glaube aber an den Modus der indirekten Schülerschaft. Mein Temperament ist nicht das eines Lehrers, sondern eines Menschen, der manchmal beim lauten Denken in Fahrt kommt und andere mitnimmt. Ich habe zwanzig Jahre lang eine Philosophieklasse an der Wiener Akademie am Schillerplatz geleitet, die ausschließlich auf freien Assoziationen vor Publikum beruhte, ausgehend von klassischen und modernen Texten. Wenn das Lehre war, nehme ich sie für mich in Anspruch.
Woran arbeiten Sie zurzeit?
Sie treffen einen glücklichen Menschen an. Ich bin momentan literarisch deprogrammiert, alle Buchprojekte sind auf Eis gelegt. Das ist für mich ein Novum. Die letzten dreißig Jahre gab es keinen Tag, an dem ich nicht schon an das nächste und übernächste Buch gedacht habe. Heute ist die vagabundierende Lektüre zurückgekehrt, das Ohr ist wieder aufgegangen. Ich höre Musik wie lange nicht mehr und oft so gerührt und staunend wie nie zuvor. In den letzten Wochen sage ich mir an manchen Abenden, ich schreibe nie mehr eine Zeile – allein schon aus Sinn für Gerechtigkeit. Es wäre eine Gemeinheit, wenn ich mit eigenen neuen Büchern den zahllosen Wunderwerken, die es schon gibt, Aufmerksamkeit entziehe – es sei denn, ich bin ganz sicher, selbst noch eines zu schaffen.
Über Ihr Ende mutmaßen Sie: »Wahrscheinlich werde ich irgendwann einmal vom Fahrrad fallen. Oder ich werde bei einer mürrischen Suche nach einer vergessenen Fußnote sterben, unter den Büchern natürlich.« Welcher Philosoph hatte Ihrer Kenntnis nach einen Tod, der es mit seinem Werk aufnehmen kann?
Vielleicht Roland Barthes, der ein Liebhaber des Universums der Zeichen war und ein Leben lang auf ihre Bedeutungen horchte. Er wurde in Paris von einem Kleinlastwagen überfahren, dessen Fahrer ein Zeichen miss-achtet hatte. Er ließ sich im Grab seiner Mutter beisetzen.
Philosophen überleben im öffentlichen Bewusstsein dank schmissiger Plakat-Losungen wie »Das Sein bestimmt das Bewusstsein«. Welcher Satz soll von Peter Sloterdijk bleiben, wenn Sie jetzt tot vom Stuhl fallen?
Sie werden nicht annehmen, dass ich darauf eine simple Antwort liefere. Provisorisch zwei Angebote. Der Philosoph meines Namens würde gern mit der Formel durchkommen: »Leben heißt Immunität ins Unendliche ausdehnen.« Beim Publikum hat das für die nächsten hundert Jahre keine Chance. Verstehen Sie dies nicht als Resignation. In meinen späteren Tagen möchte ich mich noch einmal an die Arbeit machen und Metaphysik als allgemeine Immunologie darstellen, als Lehre von der Welt als Aggression und Schutz. Nach dem Jahr 2200 wird es Schulstandard sein. Letztlich aber geht es mir darum, den Abgrund zwischen Leben und Philosophie zu überbrücken. Ich frage mich, ob dazu nicht vielleicht ein einziger Satz genügt, bei welchem dem Kollegen Descartes die Ohren klingen: Man denkt an mich, also bin ich. Mit etwas Glück wird daraus: Ich bin, seit sie an mich denkt. Je mehr Plagiatoren in der Zukunft herumlaufen, die die Quelle weder kennen noch nennen, desto besser.