Politik, das schrieb Max Weber 1919, sei das »Bohren dicker Bretter«. Es ist ein schönes Bild, denn es klingt nach gutem, solidem Handwerk. Helmut Kohl dann beschrieb seine Regierung als eine »Karawane«, die stetig weiterzieht, unbeirrt von Nörglern und Querulanten. Auch das ist ein schönes Bild, vor allem, weil es Souveränität vermittelt. Doch die Wahrheit ist: Das alles war Politik.
Heute ist der Berliner Betrieb wie eine auf Hochtouren laufende Maschine, beständig befeuert durch Nachrichten, Gerüchte, Halbwahrheiten. Die ihrerseits immer neue Nachrichten, Gerüchte, Halbwahrheiten ausspuckt, manchmal auch einen ihrer Maschinisten. Dann versucht ein anderer, der nur auf diesen Moment gewartet hat, aufzuspringen. Die »nervöse Zone« nennt die CDU-Bundestagsabgeordnete Julia Klöckner das politische Berlin: »Im digitalen Zeitalter geht es um Präsenz und Deutungsmacht. Der gemeinsame Beschleunigungstrip von Politikern und Journalisten sieht keine Ruhezonen vor«, schreibt sie in dem Buch Schmierfinken: Politiker über Journalisten. Denn wer für einen kurzen Moment die Meinungsführerschaft besitzt, darf auch einmal die Richtung der Politik bestimmen. Politik, meint Dirk Kurbjuweit, Büroleiter des Spiegels in Berlin, sei so längst »ein Echtzeit-Phänomen geworden«.
Selbst Gerhard Schröder, der den Medien als erster Bundeskanzler eine gewichtige Rolle auf der politischen Bühne verschaffte, wirkt heute wie ein Repräsentant vergangener Zeiten. Denn eines blieb Schröder immer: der Regisseur. Er war ein Meister der Oberfläche, doch darunter arbeitete die Politikmaschine noch wie zu Kohls Zeiten. Die Differenz zwischen »politischer Prozesszeit« und »medialer Produktionszeit«, dem Politikwissenschaftler Thomas Meyer zufolge der Grundkonflikt zwischen Politik und Medien – zu Schröders Zeiten war er gelöst. Große Teile des Berliner Betriebs arbeiteten noch nach einem eigenen Rhythmus. Heute bestimmen Onlineportale von Zeitungen und Zeitschriften, Blogger und die 160 Zeichen einer SMS die Politik. Von Angela Merkel ist bekannt, dass sie sich ständig über die Nachrichtenlage auf dem Laufenden halten lässt – sei die Information im Einzelnen auch noch so nichtig. Und so mancher Abgeordneter verbringt viele freie Minuten auf Spiegel Online, allzeit bereit, mit einem Kommuniqué auf eine neue politische Lage zu reagieren. Was das bedeutet, hat Gesine Schwan Ende April erfahren: Ihre zwar populistische, aber auch bedenkenswerte Warnung, die Wirtschaftskrise könnte zu sozialen Unruhen führen, wurde von SPD- und CDU-Funktionären mit einer Kaskade von Onlineinterviews abgewürgt. Schon Stunden nach ihrer Äußerung wollte die Bewerberin um das höchste Staatsamt lieber nichts mehr davon wissen.
Was für die oberste politische Ebene gilt, gilt zunehmend für den gesamten politischen Betrieb: Nachricht für Nachricht, Gerücht für Gerücht, Zeichen für Zeichen sickert der Takt der Medien ein. Politiker und Journalisten seien Getriebene einer Entwicklung geworden, »deren Zwänge wie nie zuvor auf allen Ebenen die Kommunikation und Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten bestimmen und durchdringen«, sagt Tissy Bruns, lange Jahre Vorsitzende der Bundespressekonferenz.
Einer der Politiker, der regelmäßig vor dem Verlust des Politischen warnt, ist Peer Steinbrück. Das ist interessant – gilt der Bundesfinanzminister, unterstützt von seinen Beratern, doch als ein Experte der Medienarbeit. Wenn er also öffentlich zu viel Kalkül und zu wenig Glaubwürdigkeit, zu viel Spin und zu wenig Substanz beklagt, dann ist das keine Sehnsucht nach Max Weber. Es ist ein weiterer Teil der Inszenierung namens Politik.
Jan Heidtmann, 43, ist stellvertretender Chefredakteur des »Süddeutsche Zeitung Magazins«.
Illustration: Christoph Niemann