Neulich saß ich an einem wunderschönen, sonnigen Tag alleine in einem Café in Miami, ganz lässig mit Minirock und Sonnenbrille. Es war die Art Café, die Drip-Coffee, Flat Whites und Long Blacks serviert, und um mich herum befanden sich nur junge, hippe Menschen und bildschöne Latinas, die ihre in der Mitte gescheitelten, langen Haare elegant hinters Ohr warfen. Im Hintergrund lief, natürlich, Jazzmusik. Alle, die mich hier sitzen sehen, müssten mich mindestens so cool finden wie Mick Jagger, dachte ich. Eigentlich noch cooler.
Und fing in diesem Moment vor versammelter Mannschaft an zu heulen. Die Tränen liefen mir nur so über das Gesicht und hinterließen ranzige Spuren auf meiner weißen Sonnencreme-Haut.
Nein, ich hatte mir nicht den Finger zwischen zwei Tischen eingeklemmt und, nein, ich hatte auch kein Gericht mit rohen Zwiebeln bestellt. Ich hatte einfach nur gelesen, und zwar die ersten zwei Seiten von George Saunders ersten Roman Lincoln in the Bardo, der Abraham Lincolns Trauer um den Tod seines elfjährigen Sohnes Willie zum Thema hat.
Nachdem ich den ersten Tränenschwall notdürftig getrocknet hatte, verließ ein kleiner, flüchtiger Teil von mir meinen Körper. Wie ein Geist postierte er sich draußen vor dem Fenster und betrachtete mich halb vorwurfsvoll, halb spöttisch: »Guck dich an! Du Klischee von einem Menschen! Brauchst zwei Stunden vor dem Spiegel, um so auszusehen, als wärest du gerade erst aufgestanden, sitzt in Cafés rum und liest traurige Bücher. Wer soll das bitte sein?«
»Guck dich an! Du Klischee von einem Menschen!«
Tja. Gute Frage. Ganz offenbar wollte ich an diesem Tag in Florida nicht die 30 Jahre alte Tennisspielerin Andrea Petkovic aus Darmstadt sein. Ich ähnelte eher so einer traurig-distanzierten Schönheit aus diesen französischen Nouvelle-Vague-Filmen, die sich immer um eine Dreiecksbeziehung drehen, in denen keiner der Protagonisten glücklich ist und am Ende immer einer stirbt (Achtung: Spoiler!). Jules et Jim von Francois Truffaut, klar, aber auch Un Été Brûlant von Philippe Garrel oder die mexikanische Version von Alfonso Cuaróns Y Tu Mamá También zum Beispiel. Überall dort kann man viele Nahaufnahmen von traurigen Gesichtern sehen, melancholische Einstellungen von Büchern, Kleiderleinen, die vom Wind geschaukelt werden, und Rotwein trinkende Frauen mit Miniröcken und Pony-Frisuren.
Während diese Bilder über meine innere Kinoleinwand liefen, war ich kurz getroffen, beinahe in meiner Ehre gekränkt, dass mir nichts Originelleres eingefallen war, als dieses Hipster-Café in Miami als eine der Figuren aus ausgerechnet jenen Filmen zu betreten, die ehrlich gesagt ziemlich langweilig sind (wenn man nicht besonders frankophil ist und/oder in Louis Garrel verliebt).
Als mein kleiner Gewissens-Geist wieder bei mir war und ich damit nicht mehr ganz so alleine, sah ich mich in dem Café um. Und dachte: Eigentlich erfüllen wir mit unserem Auftreten doch alle nur Klischees. Der süße Barista hinter der Theke stammt bestimmt aus einer romantischen Komödie und ist in die quirlige Blondine verliebt, die jeden Morgen reinkommt und einen Flat White to go bestellt. Über die beiden Makler zwei Tische weiter gibt es doch eine Reality Sendung bei Vox, oder nicht? Der Typ neben mir, der ständig mit Obszönitäten um sich wirft, sich lauthals darüber beschwert, dass seine zwei Eier nun schon ganze zehn Minuten brauchen (!!!) und den süßen Barista beschimpft, ist erstens hundertprozentig New Yorker, dafür lege ich beide Hände ins Feuer, und zweitens bestimmt der schreckliche Ex-Freund der quirligen Blondine.
Als Klischee fühlen wir uns selbst sicher, weil wir uns nicht damit auseinandersetzen müssen, wer wir eigentlich sind oder sein wollen. Und als Klischee können wir alle anderen um uns herum viel leichter einordnen, weil wir uns nicht damit auseinandersetzen müssen, wer sie wirklich sind. Schublade auf, Schublade zu, und komm mir emotional bloß nicht zu nahe! Easy. Aber eben nur auf den ersten Blick.
Mein kleiner Geist hatte längst wieder in meinem Kopf Platz genommen, aber so richtig ernst nehmen konnte ich ihn jetzt nicht mehr: »Du kannst gerne wieder mit mir reden, wenn dir was Besseres eingefallen ist, als einen auf Patrick Swayze in Ghost zu machen«, sagte ich. »Und ich suche solange weiter nach meiner Realität, die da irgendwo jenseits der Literatur, des Films und der Tenniswelt existieren muss. Alleine.«