Ich war auf dem Weg zu meinem Auto, die Haustür war bereits hinter mir ins Schloss gefallen, als mir einfiel, dass ich einen dieser über Jahre angesammelten Stoffbeutel zum Einkaufen mitnehmen könnte. Ich drehte also um, holte den Stoffbeutel – und im Bioladen ging ich schnurstracks auf die Gemüsetheke zu, um mehrere Packungen Babyspinat in den Beutel zu stopfen.
Ich glaube, das war der Moment, in dem mir offiziell bewusst wurde, dass ich erwachsen bin. Nicht an meinem 30. Geburtstag, nicht, als ich das erste Mal vor einem Notar saß und verzweifelt versuchte, nicht einzuschlafen, nicht, als ich den nächtlichen Döner nach einer langen Nacht in Darmstadt freiwillig ausschlug, um mich am nächsten Morgen nicht zu fühlen, als hätte mir jemand nachts einen Eimer Zwiebeln in den Rachen geworfen.
Nein, der mit Babyspinat gefüllte Stoffbeutel war es. Ich hatte erstens versucht, die Umwelt zu schonen, zweitens etwas nicht sehr Leckeres, aber Gesundes für meinen Körper gekauft und drittens zwei von zwei Entscheidungen pro Nachhaltigkeit und contra Lust getroffen. FREIWILLIG. Ich war ziemlich beeindruckt. Von mir selbst.
Es ist ein komisches Ding, dieses Älterwerden. Und wenn Sie mich jetzt verfluchen, weil ich mich mit 30 bereits über das Älterwerden beschwere, dann sehen Sie es mal so: Ich bin in etwa zwei bis drei Jahren in Rente und ich brauche morgens nach dem Aufstehen 20 Minuten Dehnübungen, bevor ich schmerzfrei die Treppe runterkomme. Ich sage immer, ich bin jung fürs Leben, aber alt fürs Tennisspielen.
Meine Regeneration hat sich verlangsamt, ich kann nicht mehr so viele Stunden auf dem Platz verbringen wie einst und wenn ich nicht mindestens acht Stunden Schlaf pro Nacht bekomme, verabschiedet sich mein Immunsystem sofort.
Aber vom Physischen mal abgesehen – was mich immer wieder aufs Neue überrascht, sind die Menschen, Ereignisse und Welten, die man auf einmal durch die Augen eines Erwachsenen sieht, als hätte man sich dann doch irgendwann entschieden, die Virtual-Reality-Brille abzunehmen.
»Irgendwann habe ich begriffen, dass alles, was einmal gesagt, geschrieben, getan wird, nicht mehr wirklich deins ist«
Eine Freundin, die ich früher für ihren Mut beneidet habe, fremde Menschen in Bars und Restaurants anzusprechen, ist – so zumindest nehme ich es heute wahr – einfach schnell gelangweilt und hat die Aufmerksamkeitsspanne einer Zweijährigen (wobei das vielleicht schon eine Beleidigung für alle Zweijährigen sein könnte). Sie hört nie richtig zu und wenn sie es nicht mehr aushält, dreht sie sich mitten im Satz um und beginnt neue Gespräche mit Fremden, die sie dann ebenfalls nicht zu Ende führt.
Als ich als Teenager in die moderne, glitzernde Tenniswelt hineinplumpste, machte mir alles Angst. Jede Person, die Teil dieses Zirkus war, schien unendlich wichtig. Vor allem die schicken Sportmanager in Anzügen à la Jerry Maguire, die ständig in ihre Mobiltelefone hineinbrüllten, ihre Sonnenbrillen ins Haar schoben wenn sie mit dir sprachen und dir schmeichelten, wenn du gut gespielt hattest, jagten mir einen Höllenrespekt ein und ich dachte, wenn du die auf deiner Seit hast, ist alles gewonnen. Heute weiß ich, dass sie von uns abhängig sind und nicht umgekehrt.
Ich schwebte auf Wolke Sieben, wenn ich nach gewonnenen Turnieren Applaus und Liebesbekundungen bekam, und war am Boden zerstört und fühlte mich hilflos und verraten, wenn es nicht so lief und dieselben Menschen mir den Rücken zuwandten. Ich wusste nicht, dass die Identität eines Menschen unendlich komplex ist und dass man vielleicht nicht selbst wählen kann, welche Teile davon in der Öffentlichkeit stehen. Man kann aber sehr wohl wählen, welche im Privaten für einen selbst zählen.
Irgendwann habe ich begriffen, dass alles, was einmal gesagt, geschrieben, getan wird, nicht mehr wirklich deins ist, sondern anderen Menschen gehört, die damit umgehen, wie es ihnen beliebt und wie es in diesem Augenblick am besten in ihre Geschichte passt. Wie ein Musikstück, das, einmal in die Welt geraten, von anderen Menschen vereinnahmt und in etwas Neues transformiert wird. Ich dachte jahrelang, dass »Miss Misery« von Elliott Smith ein wunderschönes Lied über die Trennung von einem geliebten Menschen sei – bis vor einigen Monaten der Zufallsgenerator den Song nach langer Zeit mal wieder in meine Ohren spülte und ich begriff, dass das eigentliche Thema die Depression des Sängers ist. Mein Missverstehen hat es jedoch keineswegs zu einem schlechteren Lied gemacht, es war nur das, was ich in dem Moment darin hören und sehen wollte.
Aber mit Abstand am meisten verblüfft war ich, als ich vor etwa zwei Wochen beim Zappen durchs britische Fernsehen auf den Film »Der Schakal« stieß. Kennen Sie den Thriller mit Post-Stirb-Langsam-Bruce Willis und Richard Gere in den Hauptrollen und Jack Black, dem ein Arm weggeschossen wird?
Ich hatte ihn zuvor ein einziges Mal mit etwa zwölf Jahren gesehen, als ich bei meiner Tante und bei meinem Onkel übernachten durfte. Die beiden waren nur einige Jahre während des Kriegs in Deutschland und mein Onkel war ein großer Actionfilmliebhaber. Wenn ich lange genug flehte, ließ er mich manchmal mitgucken und ich musste versprechen, es niemandem zu sagen. Ich versteckte mich dann hinter dem Ledersessel und schaute die meiste Zeit weg, weil ich die Gewalt nicht ertrug. Ich wusste auch nicht, dass Hollywoodblockbuster meistens für die Guten gut ausgehen, deswegen schwitzte ich Blut und Wasser, und ich glaube, bei »Speed« mit Keanu Reeves und Sandra Bullock machte ich mir in die Hosen – buchstäblich.
Jedenfalls sah ich den Film nun mit Erwachsenenaugen und auf einmal ERGAB ALLES SINN. In meinen Kinderaugen machte Richard Gere Jagd auf Bruce Willis und keiner wusste eigentlich, warum. In meinen Erwachsenenaugen gab es russische Spione, ehemalige IRA-Agenten, Terroristen und Profikiller. Ich verbrachte die meisten der 124 Minuten damit, »ha!«, »nee, oder?« und »ist ja interessant« vor mich hinzumurmeln, und irgendwie komme ich nicht umhin, das als ultimativen Beweis fürs Erwachsensein anzusehen.
Man denkt als junger Mensch, man weiß eh alles, aber je älter man wird, desto häufiger sitzt man staunend da und sagt »ha!«, »nee, oder?« und »ist ja interessant«. Weil man plötzlich einordnen kann. Ob es jetzt besser oder schöner ist, die Welt mit Erwachsenenaugen zu sehen, sei jedem selbst überlassen. Ich weiß nur: Babyspinat wird mit der Zeit nicht leckerer. Ich esse ihn trotzdem.