Als Profisportler lernt man, seine wenige freie Zeit möglichst effektiv zu nutzen. Und da ich viel dieser »freien« Zeit im Auto verbringe, werfe ich die Stereoanlage an, sobald ich hinterm Lenkrad Platz genommen habe (Filme schauen geht da leider schlecht). Ich höre mir die neuesten Alben an, die mir zuvor in Podcasts als unerlässlich für mein Menschsein angepriesen wurden - und eben diese Podcasts. So. Viele. Podcasts. Über Politik, Geschichte, Popkultur, Musik und Beziehungsratgeber für eine nicht vorhandene Beziehung, die sich aber zum Besseren entwickelt hat, seit ich von fremden Menschen via Kopfhörer ferngecoacht werde.
Manchmal lasse ich auch einfach nur das Radio laufen, für dieses angenehme Hintergrundrauschen, das meine Gedanken umhüllt und mich schön einlullt. Neulich, es war früh am Morgen, ließ ich mich mal wieder von irgendwelchen übereuphorisierten Moderatorenstimmen berieseln, Achtung, ein Blitzer steht auf der Heidelberger Straße!, von irgendwelcher Top-40-Chartmusik, als ich plötzlich merkwürdige Dinge fühlte. So richtig tief mit unangenehmem Kloß im Hals, Schauern den Rücken hinunter und Druck in der Brustgegend. Nein, das war kein medizinischer Zwischenfall, den ich mal mit meinem Hausarzt besprechen sollte, sondern es war ein intensives Gefühl, das mich überkam, weil »Wind of Change« von den Scorpions im Radio lief.
Kitschig? Stimmt, aber ich musste sofort an die Bilder vom Mauerfall denken und versuchte mir vorzustellen, was die Menschen gefühlt haben müssen, die auf einmal mit einer nicht gekannten Freiheit konfrontiert wurden. Einer Freiheit, die wir heutzutage als selbstverständlich empfinden.
Okay, diese Erklärung macht es nicht weniger kitschig, aber wenn man alleine mit sich selbst und seinen Gedanken ist, dann passieren solche Dinge schon mal. Kein Podcast, der mir irgendwelche Ratschläge gab, keine Netflix-Serie, die mich zwang, Streichhölzer zwischen meine Augenlieder zu klemmen, und kein Buch, das mir fremde Ideen unterjubelte. Nur ich, meine Gedanken und all ihre chaotischen Nebenwirkungen.
Ich dachte daran, wie mein Vater früher manchmal betrunken serbische Volkslieder angestimmt hatte (für alle, die das nicht wissen: Ich bin im ehemaligen Jugoslawien geboren, aber früh mit meinen Eltern nach Deutschland ausgewandert.). Wenn ich dann lauthals mitsang, kam es vor, dass mich das so tief bewegte, dass ich nicht weiter singen konnte, weil mir sonst die Tränen gekommen wären. Wie hätte die jemandem erklären können?
Sollte ich versuchen, aus diesen beiden Heimatorten in meinem Inneren einen einzigen zu machen?
Als ich da also alleine mit diesem »Wind-of-Change«-Kloß im Hals über die Landstraße fuhr, fragte ich mich: Kann man als junger Mensch überhaupt zwei Länder gleichberechtigt nebeneinander im Herzen tragen? Wie kann es sonst sein, dass mich sowohl der Mauerfall als auch die serbischen Volkslieder zum Weinen bringen? Sollte ich versuchen, aus diesen beiden Heimatorten in meinem Inneren einen einzigen zu machen? Oder ist es besser, den einen als Erinnerung und Erbe in mir zu tragen, um mich dem anderen Ort voll und ganz hingeben zu können, der (fast) mein Leben lang meine Heimat war?
Herkunft, Heimat, Familie, Erinnerung: Es fällt uns schwer, rational mit diesen Begriffen umzugehen, weil sie so emotional sind und subjektiv. Und weil sie nicht immer nur Leichtigkeit bedeuten. Die Geschichte seiner Familie und seines Herkunftslandes zu erben heißt eben auch, die damit verbundenen Narben zu erben. In meinem Fall: doppelte Geschichte, doppelte Narben.
Diese Heimat-Über-Emotionalität erkennt man gerade ziemlich gut an der Debatte um die beiden Fußball-Nationalspieler Mesut Özil und Ilkay Gündogan, die türkische Wurzeln haben und sich mit dem türkischen Präsidenten Erdogan ablichten ließen. Mit »unglücklich« ist diese Aktion milde umschrieben, und nun hagelt es Pfiffe von Seiten der deutschen Fans, wann immer einer der beiden am Ball ist. Doch keiner der Beteiligten oder Beobachter ist in der Lage, sachlich über die Situation zu sprechen - was meiner Erfahrung nach auch gar nicht möglich ist. Man kann sich dem Begriff Heimat nicht mit einer klaren Antwort nähern, weil es keine gibt. Es gibt so viele Antworten auf Fragen von Herkunft und Heimat, wie es Menschen gibt.
Je globalisierter die Welt ist, je mehr Nationen und Ethnien sich mischen, desto mehr dieser Fragen kommen auf und desto mehr Antworten werden entstehen, Tag für Tag. Das Leben wird komplizierter, weil sich die Welt rasend schnell entwickelt und dabei keine Rücksicht auf unsere begrenzte Aufnahmefähigkeit nimmt. Deshalb sind wir sind ständig irgendwie damit überfordert, einen Status quo auszumachen. Und doch verbinden uns am Ende genau die Sachen, die uns entzweien: Herkunft und Heimat. Familie und Erinnerung. Vermächtnis und Erfahrung. Die Essenz unseres Menschseins in all seiner Komplexität.
Und natürlich ist es beängstigend, wenn man mit Fremdem konfrontiert wird.
Als ich das erste Mal in New York war, hatte ich solch panische Angst vor dieser Stadt, dass ich mich zunächst immer nur genau einen Block um mein Hotel herum getraut habe. Nach zwei Wochen waren es drei Blocks und heute ist New York meine zweite Heimat und ich werde versuchen, eines Tages dort zu leben. Die Stadt macht mir immer noch manchmal Angst, aber es ist okay, denn ich habe die Angst akzeptiert und das hat ihr die Macht über mich genommen.
Sind wir also überfordert? Oder einfach nur gefordert? Gefordert, unsere Grenzen jeden Tag ein Stückchen weiterzuziehen, Block für Block, bis man nur noch so viel Angst hat, dass es okay ist und man damit leben kann.
Puh, zugegeben, das sind ziemlich viele und ziemlich tiefe Gedanken, die so eine seichte Radioshow am frühen Morgen in mir auslösen kann. Demnächst also vielleicht doch wieder dieser Podcast mit den Tipps, wie man gelassen bleibt, wenn der Partner mal wieder die dreckigen Socken in der Gegend rumliegen lässt.