Verzauberter Honig

In geisterhafter Stimmung zwischen Schiffsplanken und den Seelen Verstorbener: Wie könnte man dem Whisky besser gerecht werden?

Foto: Maurizio Di Iorio

Es war im Spätherbst vor fünfzehn Jahren, ich fuhr mit meinem Freund Gerald durch Schottland. Wir hatten ein paar unübersichtliche Tage und Nächte in Glasgow hinter uns und waren auf dem Weg nach Inverness. Nördlich von Dundee, inmitten grüner Nebelhügel hielten wir an, vor einem Hotel, das aussah wie ein sehr kleines Hogwarts.

Gerald machte den Motor aus und das Auto ein zufriedenes Geräusch, es hörte sich an, als hätten wir endlich mal was geschafft. Wir stiegen aus, nahmen unsere Taschen aus dem Kofferraum und traten durch die schwere Eingangs­tür in die Hotelhalle. Die Wände der Halle waren mit meterlangen Holzdielen getäfelt, vor dem Kamin lagen Teppiche, über der Feuerstelle hing ein Hirschkopf, wirklich, ich weiß das alles noch genau. Mir wurde sofort schwindelig, ich tat aber so, als wäre nichts. Die Dame des Hauses riet uns, nur eben unsere Zimmer zu beziehen, danach sollten wir zu ihr vor den Kamin kommen, auf ein Glas Single Malt. Sie lächelte, als wüsste sie Dinge, die andere nicht wissen.

Der Teppich in meinem Zimmer war aus diesem Mate­rial, das droht, einen zu verschlucken, wenn man nicht schnell genug auf ein Möbelstück klettert. Ich warf meine Tasche aufs Bett und mich selbst die Treppe runter zurück in die Halle. Gerald saß schon in einem tiefen Sessel vor dem Kamin, er hatte seine Beine in Richtung des knisternden Feuers übereinandergeschlagen, nippte an einem Tumbler mit goldschimmernder Flüssigkeit und sah für seine Verhältnisse unerhört glücklich aus. Ich setzte mich in den Sessel neben ihn und wunderte mich, und dann wurde mir wieder schwindelig. Ich fragte Gerald, ob ihm auch so komisch sei. Er sagte, ich solle warten, bis ich von dem Whisky getrunken hätte, dann werde alles besser.

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Die nette Dame tauchte auf, lächelte, drückte mir einen Tumbler mit Whisky in die Hand und setzte sich auf eine Couch uns gegenüber. Ich sah ins Feuer.

Als ich mich wieder der lächelnden Dame zuwandte, ­hatte sie ein Glas gehoben und erzählte uns, glaube ich, was das für ein Single Malt sei, aber ich verstand nur irgendwas mit »Speyside«. Dann nahm ich einen Schluck. Das Zeug schmeckte wie verzauberter Honig.

Wow, dachte ich und trank noch mal, die anderen beiden tranken auch, Gerald flüsterte in sein Glas, dass er ein un­geheuer angenehmes Loch im Kopf habe. Ich flüsterte, dass mir ein bisschen schwindelig sei. »Da sind Sie nicht die Erste, der das passiert«, sagte die Schottin. »Sehen Sie das Holz um uns herum?«
»Was ist mit dem Holz?«
»Planken von alten Segelschiffen«, sagte sie.
»Sind da die Seelen der Matrosen drin?«, fragte ich und fühlte mich wie ein Kind, dem gerade ein Märchen erzählt worden war. Mein Glas war fast leer. Das Feuer züngelte. ­Sie nickte. »Wir sind hier nicht allein. Aber man gewöhnt sich daran.«

Wir saßen noch lange vor dem Kamin und tranken ­irgendwas mit Speyside. An die Nacht, die auf den Single Malt folgte, erinnere ich mich nicht, aber ich meine, da war was mit dem Teppich in meinem Zimmer. Am nächsten Morgen saßen wir in einem Erker am Frühstückstisch, ein eleganter Herr servierte pochierte Eier und Toast mit Marmelade. Von der Dame des Hauses hätte ich mich gern verabschiedet, als wir später aufbrachen, doch die Halle war leer. Ich verabschiedete mich stattdessen von den Schiffs­planken und legte meine Hände aufs Holz. Seitdem wird mir in Gegenwart von Matrosenseelen nicht mehr schwindelig.