Vor ein paar Wochen habe ich im SZ-Magazin nach einem Pflegeplatz für meinen geerbten Flügel gesucht, und ich gebe zu, dass ich vor den Reaktionen ein bisschen Angst hatte. Ich befürchtete, dass mir mein Anliegen als »First-World-Problem« um die Ohren fliegen könnte und statt Bewerbungsschreiben wütende Leserbriefe in meinem Postfach landen würden: »Hast du keine anderen Sorgen?«
Mit einem guten Monat Abstand kann ich sagen: Über meine Bedenken habe ich eine Sache völlig unterschätzt. Die Kraft von Musik.
Mir war schon klar, dass Musik für viele Menschen mehr ist als ein schönes Geräusch im Ohr; das ist ja ein Grund, weshalb ich den Flügel meiner Oma nicht einfach verkaufen wollte. Aber welch starke Erinnerungen und Gefühle die Geschichte bei anderen hervorrufen würde, die ähnliches erlebt haben, oder für die Musik einfach ein so wichtiger Teil ihres Lebens ist - damit hatte ich nicht gerechnet.
Nachdem das Heft freitags erschienen war, ging es erst langsam los, irgendwann am Wochenende musste ich aber aufhören, jede Nachricht sofort zu beantworten. Es wurden immer mehr E-Mails, über 200 waren es am Schluss, und die meisten von ihnen waren überwältigend persönlich, ausführlich und offen. Ohne die Autoren persönlich zu kennen, war ich ihnen plötzlich ganz nah: Ich durfte über ihre Kindheit und Jugend lesen, über Träume, Wohnsituationen, Familienglück und -tragödien, über gelungene oder gescheiterte Karrieren, über schwere Krankheiten, über erfüllte und unerfüllte Liebe. Die Musik hatte eine Tür zwischen uns geöffnet, durch die wir uns nun Dinge erzählen konnten, die wir sonst nie miteinander geteilt hätten. Manche wollten oder konnten den Flügel gar nicht bei sich aufnehmen, aber es war ihnen wichtig, aufzuschreiben, wie sie und die Musik zueinander stehen.
Ich war und bin gerührt und erstaunt über all diese Zuschriften und möchte mich noch einmal für jede einzelne bedanken. Gleichzeitig beschlich mich beim Lesen ein mulmiges Gefühl: Wie sollte ich mich für einen Bewerber entscheiden, ohne jemanden vor den Kopf zu stoßen oder traurig zu machen? Wie sollte ich meine Entscheidung vor mir und allen anderen rechtfertigen? Mein Herz sagte: Eigentlich muss es eines der Kinder- oder Seniorenheime werden, oder zumindest ein Kinderchor. Oder der Junge mit Autismus. Oder der Achtjährige, der mir ein Bild von sich am Flügel gemalt hatte. Mein Kopf hielt dagegen: Wäre das wirklich der beste Ort für das Instrument? Hätte das meiner Oma gefallen? Ich wog unterschiedliche Örtlichkeiten gegeneinander auf: einen alternativen Jazzclub, ein Schloss in der Nähe von Stuttgart, ein Tonstudio, eine Kapelle, eine 180-Quadratmeter-Wohnung in München-Schwabing, eine Anlaufstelle für Flüchtlinge.
Nach vielen, vielen Lesestunden hatte ich drei Bewerber gefunden, die ich kennenlernen wollte. Sie hatten mich alle auf unterschiedliche Weise bewegt, durch ihre Worte und durch das, was sie tun. Eine Mutter, deren Tochter es psychisch nicht gut geht und die sich deshalb gerade in stationärer Behandlung befindet - und die nur dann frei und ganz sie selbst sein kann, wenn sie musiziert. Ein Musikerduo aus Dresden, der Geburtsstadt meiner Oma, das mich mit seiner Ansprache und Musik beeindruckte. Und ein kolumbianischer Konzertpianist, der nach Deutschland gekommen war, um im Land von Beethoven und Bach Klavier zu studieren - und der bald kein Instrument mehr zur Verfügung haben wird.
Sie alle kamen zu Besuch, wir lernten uns und sie den Flügel kennen. Es ist nicht leicht, Menschen in so kurzer Zeit einschätzen zu können: Meinen sie es ernst? Werden sie das Instrument gut behandeln? Ist gegenseitiges Vertrauen da? Am Ende war es nur ein kleines Gefühl, das den Ausschlag gab. Luis, der Kolumbianer, nimmt das Instrument dieser Tage in Empfang. Er ist der einzige professionelle Musiker unter denjenigen, die in die Endauswahl kamen; das war kein Kriterium von Beginn an. Aber es machte doch etwas mit mir. Als Luis den Deckel über der Tastatur aufschlug und ein paar Akkorde spielte, verließ ich den Raum, um ihm Zeit alleine mit dem Instrument zu geben. Ich kam nicht weit: Die paar Läufe und Melodien, die er routiniert aus den Händen fließen ließ, ließen mich im Flur erstarren. Mein Vater saß etwas weiter weg auf dem Sofa, und ich sah, wie seine Augen feucht wurden (der Flügel hatte ja lange Zeit im Haus seiner Mutter gestanden). Luis schaffte es mit einigen wenigen Handgriffen, den Flügel fliegen zu lassen. Er erzählte uns, dass ein Bechstein einen besonderen Charakter habe und dass er die Geschichte unseres Flügels spüren könne. Die passen, dachte ich, und ich war froh, als Luis sagte, dass es ihm eine Ehre wäre.
Für die anderen beiden Bewerber war das okay, sie wissen, dass das kein nach festgelegten Kriterien zu entscheidender Wettbewerb war, sondern dass am Ende Herz, Bauch und Kopf gemeinsam sagen mussten: Mach das. Hätte ich nur auf mein Herz oder meinen Kopf gehört, hätte ich mich vielleicht anders entschieden. Aber so ist das mit der Musik: Sie ist irrational. Sie geht tief und kann Dinge in uns ansprechen, von deren Existenz wir nichts wissen. Bis sie von bestimmten Klängen und Melodien an die Oberfläche und in unser Bewusstsein befördert werden. Und sie kann uns verbinden. Das habe in den vergangenen Wochen gespürt. Deshalb ist es völlig in Ordnung, dass mein Flügel jetzt erstmal unterwegs ist. Ich weiß ja, dass er irgendwann zurückkommt. Und dann neue Erinnerungen in sich trägt.