Gestern erst ertappte ich mich wieder dabei, wie ich im Vorbeigehen mit der Hand über seinen Rücken strich, beiläufig, aber zärtlich, wie ich mir dachte, schön, dass du noch da bist, altes Haus. Und wie ich mir dann, bevor ich das Zimmer verließ, etwas zu dramatisch den Staub von den Fingerkuppen pustete. Weil ich weiß: Lange geht das nicht mehr. Irgendwann kommt der Tag, an dem wir Tschüss sagen müssen, und das wird eher nächsten Monat sein als nächstes Jahr. Das tut ein bisschen weh.
Über 20 Jahre stand der Brockhaus mir zur Seite, während der Schul- und Unizeit direkt neben dem Schreibtisch, immer greifbar, immer zuverlässig, später etwas weiter weg in einem Regal im sogenannten Arbeitszimmer. Lieber, braver Brockhaus. Im Gegensatz zu meinem Uni-Laptop, einer geerbten Möhre, stürzte er nie ab, bis auf einmal, als die Umzugskiste unter seiner Last mitten im Treppenhaus nachgab, aber da waren es auch nur ein paar Stufen.
Als ich 12 oder 13 war, begann meine Mutter, mir jedes Jahr zu Weihnachten drei Bände zu schenken, James-Rizzi-Sonderedition in blau-bunt, rechtzeitig zum Auszug war die Enzyklopädie vollständig. Ich habe bis heute keine Ahnung, wo meine Mutter die Bücher über all die Jahre versteckte, man kann ja nur die Gesamtausgabe kaufen.
Ich war auf jeden Fall stolz, als ich sie damals zum ersten Mal in einen Karton packte, um sie mit in mein neues Leben zu nehmen. Bis dahin war ich noch nie umgezogen und versäumte es, A bis G mit einer Lage Bettwäsche zu kombinieren, H bis S mit Socken und so weiter. Anfängerfehler. Der Brockhaus gehört zusammen, dachte ich, klar, nur so macht er Sinn. Bei meinen Umzugshelfern hieß die Brockhaus-Kiste »Arschloch-Kiste«, sie stand am Ende einsam vor der Haustür.
So ging es ein paar Mal, der Brockhaus und ich zogen zusammen von der einen in die andere WG (natürlich noch immer ohne Aufzug, aber mit wachsendem Pack-Know-how), und es war mir völlig egal, dass das Rizzi-Design nach ein paar Jahren so cool war wie ein Keith-Haring-Druck überm Küchentisch. Der Brockhaus gab mir ein seltsames Gefühl von Sicherheit, und ich dankte es ihm, indem ich ihn in jeder Hausarbeit mindestens einmal in den Fußnoten zitierte. Sogar in meiner Magisterarbeit kam er vor; er lieferte mir eine sehr verständliche und kurze Definition von Doping, weitaus verständlicher als jene, die mir die sportwissenschaftlichen Lehrbücher anboten.
Dummerweise aber hat dieser in den Neunzigern geborene Brockhaus ein Problem: Er kam in einer Zeit zu mir, in der er eigentlich schon gar nicht mehr gebraucht wurde, zumindest im rein enzyklopädischen Sinn. Denn auch wenn ich ihn aus Nostalgie- und Ehrengründen in regelmäßigen Abständen zur Rate zog, klickte ich für meine Studien und später meine beruflichen Recherchen natürlich tausendmal häufiger auf den Google-Such-Button und dessen Verwandte. Zugegeben: Zu seinem wichtigsten Einsatz kam der Brockhaus beim »Wer wird Millionär«-Computerspiel, das wir irgendwann zu Beginn des Studiums mal als Trinkspiel entdeckt hatten.
Das macht es mir nicht leichter, vor meinem aktuellen Mitbewohner zu argumentieren, warum die 15 breiten Bücher noch immer Anspruch auf Platz im Regal haben. Und – mal abgesehen vom fragwürdigen Design - hat er ja Recht, vermutlich werde ich nie wieder einen Blick in sie werfen. Als ich in meiner jüngsten Verteidigungsrede behauptete, dass der Brockhaus in alternativfaktischen Zeiten noch ein verlässlicher Quell der Wahrheit sei, dass Gedrucktes sich ja wohl wahrhaftiger anfühle als Geklicktes, musste ich zudem einsehen: Viele Dinge, die uns heute umgeben und über die wir diskutieren, sind ihm völlig unbekannt, iPhones, Facebook oder AirBnb zum Beispiel. Armer, braver Brockhaus.
Nun liegt das natürlich daran, dass es all das noch nicht gab, als der Rizzi-Brockhaus produziert wurde, dafür kann er wirklich nichts. Den Wissensschatz, den er hütet, würde ich auch nie anzweifeln; 100 Prozent geprüft ist dieser, zumindest wirbt der Verlag damit. Doch diese Prüfung fand eben zu Beginn der Neunzigerjahre statt, als Helmut Kohl noch regierte und der Beweis von Einsteins Theorie der Gravitationwellen nicht mehr als eine wissenschaftliche Vision war. Der gedruckte Brockhaus ist ein Museum der Begrifflichkeiten, eine Art sprachliches Abbild der Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt. Mit Wikipedia etwa, die millisekündlich durch unzählige Autoren ins Unermessliche wächst, kann er in Sachen Aktualität natürlich nicht mithalten.
Doch seine Qualität ist eine andere: Er ist wie ein Gemälde, ein alter Klassiker, nicht mehr aktuell, aber schön, ehrwürdig und wahrhaftig. Irgendwie tröstlich in einer Zeit des ständigen Wandels. Ob man sich so ein Bild aufhängt, ist allerdings eher eine Geschmacks- und Platzfrage.
Auf einem Do-it-yourself-Blog habe ich ein Tutorial dazu gesehen, wie man aus alten Büchern einen Wohnzimmertisch baut, der sieht sogar ganz gut aus. Kompromiss. Okay?
Fotos: Brockhaus-Verlag