Wie ich im Homeoffice verlernte, Pausen zu machen

»Schnell« was essen, »kurz« an die frische Luft: Viele Menschen haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie mal länger weg sind vom Computer. Dabei ist das Abschalten gerade so wichtig wie nie.

Foto: iStock/horstgerlach

Die Sonne scheint. Endlich! Ich nehme die Schüssel mit dem aufgewärmten Curry und setze mich vors Haus. Es dauert ungefähr fünf Minuten, bis ich alles aufgegessen habe. Schade, denke ich, schon fertig, und will mich erheben, um zurück in die Wohnung zu gehen, zurück an den Schreibtisch, zurück an die Arbeit, die ja nie so ganz aufzuhören scheint im Homeoffice. Und den Kolleginnen und Kollegen hatte ich in unserem Teamchat geschrieben, dass ich nur »kurz« was esse. Niemand von ihnen wird fingerklopfend warten, bis ich mein Chatprofil wieder auf »anwesend« setze, wahrscheinlich sehen sie es noch nicht mal, aber nicht, dass sich irgendjemand fragt, wo ich eigentlich bin.

Ich strecke mein Gesicht in die Sonne und kneife die Augen zusammen. Die Sonne wärmt schon richtig. Wie gerne würde ich jetzt mit den anderen aus dem Büro auf den Bänken vor der Redaktion sitzen, einen Espresso in der Hand, ein Eis vielleicht, und einfach nur sitzen und sitzen und reden und warten, bis es sich so anfühlt, als hätten wir genug Sonne und Erholung getankt, um guten Gewissens vor die Bildschirme zurückkehren zu können.

Stattdessen kehre ich mit einem schlechten Gewissen zurück in meine Homeoffice-Abgeschiedenheit, und zwar mit doppeltem: Dass ich nur so eine kurze Pause gemacht habe, obwohl das Wetter schön ist und ich frische Luft und Sonnenlicht wirklich gebrauchen könnte. Und dass ich überhaupt eine Pause gemacht habe – denn: Woher sollen die anderen wissen, dass ich wirklich nur eben was esse und nicht die Steuer oder den Frühjahrsputz erledige? Denken die Teammitglieder nicht eh, dass ich zuhause weniger arbeite, als ich behaupte? Niemand hat je etwas gesagt, ausufernde Pausen waren in unserem Team noch nie Thema. Aber die Sorge, auf zu langes Wegsein angesprochen zu werden, haben wir offenbar alle, denn als ich »wieder da« in unseren Chat schreibe, sehe ich, dass sich inzwischen ein Kollege abgemeldet hat mit den Worten: »Muss mich kurz ums Kind kümmern. Bin später aber noch mal am Rechner.« Er spürt dieses schlechte Gewissen scheinbar auch. Dabei verstehen doch alle bei uns, dass Kinder Betreuung brauchen, gerade in Zeiten wie diesen. So wie alle wissen, dass Pausen essentiell sind, um gut und konzentriert arbeiten zu können. Gerade im Homeoffice, in dem die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit viel zu arg verschwimmen, und man besonders auf das eigene psychische Wohlergehen achten sollte.

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Ich höre das zurzeit von vielen Arbeitnehmer*innen im Homeoffice: Die Eigenverantwortung und die fehlende Kontrolle, ob und wie viel man am Arbeitsplatz sitzt, schlagen in so eine merkwürdige Beflissenheit um, zumindest in der Kommunikation, die ja heutzutage in vielen Unternehmen über Programme wie Microsoft Teams oder Slack erfolgt.

In diesen Büro-Chats gehört es fast schon zum guten Ton, dass man – gern in Begleitung ironisch eingesetzter Emojis – »schnell was einkaufen« oder eine »kurze Runde um den Block« geht, »nur eben was Fixes« kocht, und am Abend ist man »eh noch mal online«, um auch die letzten Zweifel auszuräumen, dass man wirklich, wirklich ordentlich arbeitet. Hat das damit zu tun, dass man durch die grünen Bereitschaftslämpchen in den Chatprogrammen (»anwesend«) irgendwie doch überwachbar wird?

Die Wahrheit ist ja: Sehr häufig schaffen Arbeitnehmer*innen im Homeoffice sogar mehr als im Büro. Studien (wie diese hier aus Stanford) belegen, dass die Produktivität im Homeoffice meist steigt, weil die Angestellten kürzere Pausen einlegen, weniger häufig wegen Krankheit ausfallen und sich seltener freinehmen. Zudem kommen sie weniger häufig zu spät und lassen sich auch sonst weniger vom Büroalltag ablenken. Stimmt, denke ich, wie oft verquatscht man sich mit dem Kollegen nach der Besprechung noch auf dem Gang, wie oft begleitet man die Kollegin auf einen Kaffee in die Cafeteria, obwohl man selbst schon drei Tassen hatte, die Möglichkeit einer kurzen Pause und zwangloser Gesellschaft aber dankbar annimmt, und zwar ohne einmal darüber nachzudenken, ob das jetzt okay ist oder man dann nicht mehr auf seine vertraglich vereinbarte Stundenzahl kommt? Das alles fällt weg im Homeoffice, was an sich schon schlimm genug ist. Warum bringt man sich dann auch noch selbst um die kleinen Freuden, die übrig sind im immer gleichen, einsamen Arbeitsalltag?

Weil wir fatalerweise der Meinung aufsitzen, echte Arbeit müsse sich anstrengend anfühlen, damit wir sie für uns als solche anerkennen könnten, vermutet eine Kollegin. Wenn also der Büro-Rahmen wegfällt, der an sich schon dafür sorgt, dass sich Arbeit wie Arbeit anfühlt, müssen wir im Homeoffice offenbar selbst für so ein diffuses Gefühl von Dauerstress und permanenter Geschäftigkeit sorgen. Zu tief steckt in vielen von uns der Glaubenssatz der Leistungsgesellschaft: Wer Stress hat, ist mit großer Sicherheit produktiv und damit wertvoll für seinen Arbeitgeber. Und wer nur kurze Pausen einlegt und auch alles Private »mal eben schnell« wegackert, arbeitet mutmaßlich so viel, dass er oder sie im Stress ist. Willkommen in der Selbstausbeutung.

Ich gehöre der Generation Y an, für die Arbeit ein elementarer Bestandteil der Selbstverwirklichung ist. Die zwar Wert auf Work-Life-Balance legt, dem Job im Zweifel aber vieles unterordnet – und so schnell ins sogenannte »Work-Life-Blending« rutscht, in dem Arbeits- und Privatleben verschmelzen. Das war schon vor Corona und der vermehrten Homeoffice-Arbeit so (die ich zum Infektionsschutz auch für unabdingbar halte), aber natürlich hat sich das Phänomen im zurückliegenden Jahr noch einmal verstärkt. Die Generation nach mir, Z wird sie genannt, lehnt genau das ab: Sie ist für eine strikte Trennung von Beruf und Privatleben, mehr noch: Private Erfüllung ist für die meisten deutlich erstrebenswerter als die Verwirklichung im Job. Viele ältere Generationen belächeln die als so bequem und gleichzeitig fordernd geltenden Z-ler deshalb noch immer. Dabei wäre genau jetzt der Zeitpunkt, sich von ihnen abzuschauen, wie das funktioniert mit dem gesunden Grenzenziehen, auf Gen-Z-Deutsch: »Work-Life-Cut«.

Denn der Kreislauf erstreckt sich ja nicht nur auf die Arbeit, wegen der man im Homeoffice so schnell ein schlechtes Gewissen bekommen kann, sondern auch auf das Privatleben. Ich bekomme ein blödes Gefühl im Bauch, wenn ich daran denke, wie oft ich zu meiner Tochter schon gesagt habe: »Nur noch kurz diese Mail, dann helfe ich dir mit den Bügelperlen« oder »Ich muss noch ganz schnell was fertig machen für die Arbeit, dann lese ich dir das Buch vor«. Richtige Pausen und ein richtiger Feierabend sind wichtig – und zwar nicht nur, um danach mit bestmöglicher Leistung weiterarbeiten zu können. Sondern auch, um bestmöglich leben zu können. Das ist immer wichtig, aber es war vermutlich noch nie so dringend nötig wie jetzt.

Nachdem wir im Team über unsere seltsamen Nur-schnell-Pausen gesprochen haben, schreibt eine Kollegin in den Chat: »Ich nutze die Mittagspause für Sport in der Sonne.« Und eine andere: »Ich mache Pause für Eis!«. Ich bin mir sicher, dass niemand der anderen das komisch fand, weil wir einander nämlich vertrauen; das kann man sich ruhig immer mal wieder ins Gedächtnis rufen. Und dass beide nicht nur einen besseren Arbeitstag hatten, sondern auch einen schöneren und entspannteren Feierabend. Es ist eines der großen Paradoxa dieser Zeit, dass wir dafür arbeiten müssen, mal nicht zu arbeiten. Aber so fleißig, wie wir unsere Kolleginnen und Kollegen davon überzeugen, geschäftig zu sein, sollten wir auch uns selbst davon überzeugen, dass wir mal abschalten müssen und weggehen aus dem virtuellen Büro. Und sei es nur aufs Sofa.