Die große Leere

Homeschooling kann den Unterricht einigermaßen ersetzen, aber nicht den Pausenhof. Was passiert mit Kindern und Jugendlichen, wenn ihnen die Mitschüler und dieser so wichtige Ort des Erwachsenwerdens fehlen? Eine Spurensuche.

Der verwaiste Pausenhof am Vormittag eines Gymnasiums in Hamburg. Nur die Markierung für die Klassentrennung erinnert an das sonst rege Treiben während der Pausen.

Foto: Ulrich Perrey/dpa

An meinem ersten Schultag schlug mir Max aus der 2b auf dem Pausenhof ins Gesicht. Einfach so. Ich weinte, eine Lehrerin rettete mich. Ein paar Wochen später wurden Max und ich Freunde, weil wir auf dem Pausenhof gemeinsam Fußball spielten. Die erste Ohrfeige, die erste Freundschaft, später die erste Liebe – immer war der Pausenhof die Bühne dafür. Aber wie geht es Schülern und Schülerinnen jetzt, wo wegen Corona niemand mehr auf Schulhöfen spielen und erwachsen werden kann?

Ich rufe Maria Pizzitola-Strasser an, die Sozialarbeiterin meiner früheren Grundschule am Rande der Schwäbischen Alb. »Pausenhöfe sind so wichtig, weil Kinder dort oft zum ersten Mal für sich selbst verantwortlich sind«, sagt sie, »auf dem Pausenhof testet man ohne die Eltern Grenzen aus und lernt, wie sich Konflikte lösen lassen.« Wegen Corona falle das für Hunderttausende Grundschulkinder nun weg und das sei fatal. »Keine Mutter kann die Freunde eines Kindes ersetzen«, merkt Maria Pizzitola-Strasser. Allein schon das Herumrennen fehle den Kindern, weil es eine der wichtigsten frühkindlichen Aktivitäten ist, sagt die Sozialarbeiterin. »Für Grundschulkinder ist es wichtig, sich auch körperlich zu messen.«

Stefanie Tiefensee ist Mutter und Elternbeirätin in meiner ehemaligen Grundschule. Am Telefon hört man im Hintergrund ihren Zehnjährigen irgendetwas wollen, sie sagt sanft: »Jetzt nicht, ich telefoniere«. Ihrem Sohn fehlt der Schulhof, weil er seine Freunde nicht sehen kann. Ihr als Mutter fehlt der Schulhof, weil das der Ort ist, an dem sich die Kinder mal richtig austoben. »Alle Energie, die die Kinder sonst in der Schule raus lassen, entlädt sich jetzt daheim«, sagt Tiefensee. Die Leichtigkeit, mit der man auf dem Pausenhof durch die Gegend springe, könne die eigene Wohnung niemals bieten.

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»Ein Tag im Homeschooling ist für die Kinder so langweilig, weil er so erwartbar ist.«

Stefanie Tiefensee, Mutter und Elternbeirätin

»Viele Kinder, die sich nicht so leicht tun mit sozialen Kontakten, haben es jetzt noch schwerer«, sagt Stefanie Tiefensee. Ihr Sohn etwa sei autistisch veranlagt, der Pausenhof machte es ihm leichter, mit anderen Kindern zusammen zu sein. Wenn die Mitschüler nur mehr bewegte Kacheln auf dem Bildschirm sind, zeigt sich nur noch mehr, welche Kinder eher Außenseiter in der Klassengemeinschaft sind. Früher seien Freunde einfach vorbeigekommen und hätten geklingelt. Heute sei ihr Sohn im Lockdown oft einsam. 

Die Spontanität im Leben sei weg, sagt Tiefensee noch. »Ein Tag im Homeschooling ist für die Kinder so langweilig, weil er so erwartbar ist.« Bei ihrem älteren Sohn, 14 Jahre, sei es ein bisschen einfacher. Da verlagere sich der Schulhof ins Internet. Er und seine Klasse würden sich abends online treffen und einfach »irgendwas gegeneinander zocken«. Aber was ersetzt das Miteinander von älteren und jüngeren Schülern, die sich sonst in jeder Pause begegnen? Wo man sich von den Größeren viel abguckt und man sich den Kleinen gegenüber mal groß und erwachsen fühlen darf?

Mein ehemaliger Geschichtslehrer erzählt mir, dass er gerne die Aufsicht auf dem Schulhof mache. An der frischen Luft sein, den Schülern zusehen, statt anstrengende Gespräche mit Kollegen zu führen. Ihm macht Sorgen, dass sich die Schülerinnen und Schüler im digitalen Unterricht so leicht verstecken könnten. »Sie sagen mir dann oft, dass sie technische Probleme haben. Ob das stimmt oder ob sie bloß kein Bock auf den Unterricht haben, kann ich nicht einschätzen.« Corona töte die Gesprächskultur, sagt mein Geschichtslehrer. »Außerhalb der Unterrichtsstunden per Video haben die Schulkinder keinen Raum mehr, um zu reden.« Er versuche, das aufzufangen, wo es gehe und Dinge, die den Schulhof so wichtig machten, mit ins Digitale zu verlagern. Mittwochabends bietet er eine Arbeitsgruppe an, in der sie zusammen TED-Talks ansehen und anschließend über die Vorträge diskutieren. Rund 40 Jugendliche würden jeden Mittwoch mitmachen, freiwillig.

Ein Dreieck und Kreise aus Kreide zur Einhaltung der Abstandsregeln sind auf den Pausenhof einer Schule in Hamburg gemalt.

Foto: Christian Charisius/dpa

Moritz Meusel, bayerische Landesschülersprecher und Elftklässler eines Gymnasiums in Bamberg, sagt mir, dass der Pausenhof so fehle, weil er dazu zwinge, Lernpausen zu machen. »Viele Jugendliche pauken jetzt im Homeschooling stundenlang durch und bleiben bis in die späten Nachmittagsstunden in ihrem Zimmer«, erzählt er. Ich frage ihn nach seiner schönsten Schulhoferinnerung, er erzählt von einem Abistreich. Ein bisschen rebellieren, Lehrern mal Streiche spielen dürfen, auch das fällt derzeit aus. Moritz Meusel schreibt nächstes Jahr sein Abitur. Ob er im Frühjahr 2022 selbst einen Abistreich planen kann, weiß er nicht.

Der Schulhof ist auch ein Ort, der die spätere Persönlichkeit prägt, der einem zeigt, zu welcher Gruppe man gehören möchte, und zu welcher sicher nicht. Bei Moritz Meusel war es der Basketball, den ein älterer Freund mitbrachte: »Den ersten Korb habe ich in der siebten Klasse geworfen und seitdem habe ich mit dem Sport nicht mehr aufgehört.« Mittlerweile spielt er in der Bayernliga. All das habe auf dem Schulhof angefangen. »Weil uns da die Mädchen beim Basketball zugeschaut haben.«

Wenn die Schulen wieder auf machen, sollen die Sicherheitsabstände auf dem Pausenhof gewahrt werden. In Frankreich wurden Vierecke mit Kreide auf dem Boden gemalt, die Kinder durften die Abstandsmarkierungen in der Pause nicht verlassen. In Deutschland mussten Schüler in einigen Bundesländern auch im Freien eine Maske tragen. Es gab Einbahnstraßenregelungen auf den Gängen, Linien auf dem Boden und verschiedene Pausenzeiten. Was davon macht Sinn?

»Alles, so lange es noch irgendwie einen Ort gibt, an dem sich die Kinder außerhalb des Unterrichts treffen können«, sagt Barbara Pampe. Die Architektin beschäftigt sich damit, wie man Schulhöfe so baut, dass sie Kindern bei ihrer Entwicklung helfen. »Schulaußenräume müssten auch Flächen für Rückzug bieten«, sagt Pampe, »Nischen und versteckte Ecken in denen Schülerinnen und Schüler einfach ungestört unter sich sein können.«

Sie erzählt von einer Schule in Köln, auf deren Pausenhof Schafe und Hühner gehalten werden. Und von einer Schule in Karlsruhe, die einen Fußballplatz auf dem Dach der Turnhalle gebaut hat, damit auf dem Schulhof mehr Raum ist. Für Schulhöfe sei das Budget in der pädagogischen Architektur meistens sehr knapp. Das wird der Bedeutung dieser Orte nicht gerecht, denn »der Pausenhof prägt uns«, sagt Barbara Pampe. Den ersten Korb, den man dort warf, oder die erste Ohrfeige, die man sich dort fing, vergisst man nicht.