Kürzlich habe ich meinem Sohn mal wieder Lieselotte versteckt sich vorgelesen. Die Kuh Lieselotte klettert darin auf einen Baum und wird erst nach einiger Zeit von ihren Freunden, den Schweinen, Ziegen und Hühnern, entdeckt. Die Geschichte endet mit einem gemeinsamen Picknick der Tiere in der Baumkrone. Mein fünfjähriger Sohn weiß mittlerweile, dass das nur in der Geschichte so funktioniert, weil Kühe »in echt« nicht auf Bäume klettern und Tiere keinen Kaffee trinken. Nicht klar ist ihm, dass das Gesamtbild, das in Kinderbüchern vom Leben auf dem Bauernhof gezeichnet wird, hinten und vorne nicht stimmt.
Denn während Kuh Lieselotte in ihrer Idylle große und kleine Abenteuer erlebt oder Conni und Konsorten mit niedlichen Ferkeln spielen, stehen echte Nutztiere in Großbetrieben zu Hunderten an den Melkmaschinen oder auf Spaltenböden. Die allermeisten Kühe kommen ihr ganzes Leben lang nicht einmal in die Nähe eines Baumes. Hörner werden mit Brenneisen entfernt, Ferkelhoden ohne Betäubung abgeschnitten, weil das praktischer für die Haltung ist. Da sagt die Bäuerin nicht abends liebevoll jedem Tier »Gute Nacht«. Da wird nicht gemeinsam Weihnachten gefeiert und es wird auch nicht verstecken gespielt.
Bilderbücher für die Kleinsten müssen sicher nicht den Anspruch haben, die Realität eins zu eins abzubilden. Da darf das Küken auf der Suche nach seiner Mutter den Hund, die Katze oder die Ente um Hilfe bitten. Spätestens für Vorschulkinder allerdings wäre es schön, Landwirtschaft einigermaßen realistisch zu beschreiben.
Man muss ja mit der Offenheit nicht so weit gehen wie der Zoo in Kopenhagen vor ein paar Jahren, der ein gesundes Giraffenjunges aus Zuchtgründen tötete, vor den Augen der großen und kleinen Besucher zerlegte und an die Löwen verfütterte. Der Zoo-Direktor entgegnete Kritikern damals, das Leben sei nun einmal kein Disney-Film. Das war hart, aber im Grunde hatte er Recht. Warum eine heile Welt vorgaukeln, wenn es in Wirklichkeit um etwas ganz anderes geht: den Erfolg von Zuchtprogrammen oder effiziente Fleischproduktion.
Bei anderen Themen wird sich in Kinderbüchern um zeitgemäßes Erzählen bemüht – allmählich wandelt sich das Frauenbild in Kinderbüchern, wo nicht mehr jede Mama ausschließlich Hausfrau ist, sondern einen Beruf hat und zur Arbeit geht. Migrationshintergründe oder unterschiedliche Familienkonstellationen und Lebensmodelle werden häufiger thematisiert. Doch bei der authentischen Darstellung der Nutztierhaltung tut man sich nach wie vor schwer. Warum ist das so?
Fleisch ist Bestandteil unseres Alltags. Die wenigsten beschäftigen sich jedoch gerne mit der Frage, wo es herkommt
Knapp 90 Kilogramm Fleisch im Jahr verbraucht der Durchschnittsmensch in Deutschland. Am Ende seines Lebens hat jeder Deutsche statistisch gesehen 1094 Tiere gegessen. Fleisch ist Bestandteil unseres Alltags. Die wenigsten beschäftigen sich jedoch gerne mit der Frage, wo es herkommt.
Massentierhaltung und Schlachtung sind keine angenehmen Themen. Aber wenn wir unseren Kindern jahrelang ein falsches Bild vermitteln, erziehen wir sie dann nicht zu ignoranten und wirklichkeitsfremden Träumern, die glauben, Fischstäbchen gäbe es einfach so, ohne Schleppnetze, ohne Konsequenzen für die Meere? Kinder stellen Fragen, die wir selbst gern verdrängen: »Warum werden den Hennen die Eier weggenommen?« – »Wie kommt das Schwein in die Wurst und woraus ist die Hülle?«
Ich wünsche mir Bücher, die Landwirtschaft kindgerecht erklären, so, wie sie ist. Es gibt tolle Sachbuchreihen wie »Wieso, weshalb, warum«, jedoch werden auch dort die unangenehmen Details meist verschwiegen. Dabei könnte – ähnlich wie bei anderen schwierigen Themen wie Trennung, Tod, Neid oder Eifersucht – sachlich erklärt werden, warum es Mastbetriebe mit Tausenden Schweinen gibt. Dass es Gesetze gibt, die vorschreiben, wie viel Platz jedes Tier mindestens haben muss. Woher das Futter kommt. Warum manche Tiere auf dem Weg zum Schlachthof stundenlang durchs Land gekarrt werden. Conni könnte Schulausflüge zu landwirtschaftlichen Betrieben machen und die unterschiedlichen Haltungsbedingungen vergleichen.
Viele erfolgreiche Kinderbücher spielen in Traumwelten, siehe Jim Knopf, Der kleine Wassermann oder Pippi Langstrumpf. Kindern im Vorschulalter ist bewusst, dass das Fantasiegeschichten sind, es keine Drachen oder Wassermänner gibt, neunjährige Mädchen nicht allein wohnen und Pferde hochheben können. Viele dieser Helden haben einen traurigen Hintergrund, sind Waisen oder Außenseiter – aber schaffen es auf die Sonnenseite des Lebens. Wir können unseren Kindern also durchaus etwas Unglück und Härte zumuten.
Warum nicht mal die Geschichte eines ausgebüxten Mastkalbs, das seine Familie verliert und von Albträumen geplagt wird, aber überlebt und ein neues Zuhause findet? Kuh Lieselotte könnte mit ihren Freunden einen Ausflug zur benachbarten Mega-Farm machen, andere Milchkühe an Melkrobotern beobachten und zufrieden über das eigene friedliche Leben zur Bäuerin zurückkehren. Denn am Ende muss natürlich alles gut werden. Aber bis dahin wäre es immerhin ein wenig ehrlicher.