Die Stadt, in der ich aufgewachsen bin, bietet ihren Bewohnern eine Menge Möglichkeiten, ihr zu entkommen: zwei Autobahnauffahrten, ein Fernradwegenetz, einen Bahnhof, einen Flugplatz. Man muss, um sie zu nutzen, mit dem Aufwachsen aber schon ziemlich weit sein. Bis dahin ist es schwierig, es bleiben nur die Fluchtmöglichkeiten für die, die gerade nicht weg können, seit ein paar Wochen gibt es zwei weniger: die Disco »Rosi« in der Badstraße, die neulich abgebrannt ist. Und die Buchhandlung in der Fußgängerzone, von der dieser Text deshalb handelt, weil sie seit dieser Woche geschlossen hat.
Der Laden war wie ein Aussichtsturm, man konnte von hier aus sehr gut sehen, was es in anderen Städten und Köpfen noch so alles gibt. Nebenbei erfüllte er jedes einzelne Buchhandlungsklischee: Buchhändler mit Goldrandbrille, ein Goethe-Pappaufsteller in der Ecke, dem der Buchhändler einen Schalke-Schal um die Pappschultern gelegt hatte. Mitten im Laden der hölzerne Sekretär der Buchhändlersgattin, der Mann an der Bestellausgabe mit einem Doktor in Literaturwissenschaft. Wenn nicht viel los war, stand der Buchhändler mit hinter dem Rücken verschränkten Händen vor dem Laden und hielt mit freundlichem Grant Ausschau, was sich so tat. Er stand oft da, es tat sich selten was, es war aber eben auch oft nicht viel los.
Und anscheinend schon länger zu wenig.
Ich kaufte dort die Unendliche Geschichte und Momo und den Fänger im Roggen und einen kleinen Berg Mathe-Abi-Trainer und das Reclam-Heftchen Faust I, dreimal, weil das erste versehentlich mitgewaschen wurde und das zweite in einen Badesee fiel, außerdem Generation Golf und einen großen Berg Reiseführer.
Als ich klein war, dachte ich, die Leute, die dort arbeiten, hätten jedes einzelne Buch im Laden gelesen. Später merkte ich, es stimmt. Und sie wussten nicht nur, was in den Regalen stand und wen was interessieren würde, sondern auch: was sie an wen verkauft hatten. Und weil die Kunden wussten, dass die Buchhändler das wussten, wurde es schwierig; die Leute kauften dort nur noch die tollen Biografien im Laden, die sie zu Weihnachten verschenken, und bestellten billige Krimis und die 50 besten Low-Fat-Saucen aus dem Thermomix im Internet. Denn klar, Amazon merkt sich auch, wer du bist und was du kaufst, aber Amazon triffst du nicht samstags beim Bäcker oder sonntagabends im Konzert und musst dann dem grantig-freundlichen Blick standhalten, der, auch wenn er es sicher nicht so meinte, unmissverständlich sagte: Ich weiß, dass du heimlich Fitzek liest, mein Freund.
Ich zog weg, ein paar Jahre später zog ich wieder zurück, um als Redakteur bei der Tageszeitung zu arbeiten. Auf dem Rückweg von meinem ersten Termin kaufte ich als Wieder-Einstand den 900-Seiten-Wälzer Titan von Jean Paul, der in der Stadt, in der ich nun wieder lebte, gestorben war. Ich fand, es würde nicht schaden, mehr als immer nur zehn Seiten eines Jean-Paul-Romans gelesen zu haben; außerdem fand ich, es sah gut aus, genau jetzt genau hier dieses Buch zu kaufen. Der Buchhändler begrüßte mich grantig freundlich mit: »Na, sind Sie also jetzt bei dieser Scheißzeitung.« Ich entgegnete irgendwas, dann ging ich nach Hause, las neun Seiten und ließ den Wälzer dann in Ruhe.
Ich wohnte um die Ecke, grüßte den auf der Straße stehenden Buchhändler winkend von weitem, kaufte meine Bücher dann aber doch lieber woanders. Ich hatte keine Lust mehr auf den freundlichen Grant. Ich wollte nicht für jedes Buch zweimal aufbrechen müssen, einmal zum Bestellen und einmal zum Abholen. Mir war nicht richtig geheuer, dass jemand, den ich kannte, sich gemerkt haben könnte, dass ich, aha, Die kleine Raupe Nimmersatt in der Papp-Ausgabe für Zweijährige kaufte, ein viertes Mal Faust I oder erst jetzt Die Korrekturen von Jonathan Franzen, »Ach so, das kennen Sie noch gar nicht«, lauter blöde, eitle Gründe, völlig außer Acht lassend, wie wichtig der Laden für mich gewesen ist. Er war viel besser als zwei Autobahnauffahrten und der Bahnhof: Hier habe ich, und zwar ohne viel eigenes Zutun, Fliegen gelernt.
Neulich war ich wieder zu Besuch, das letzte Buch, das ich dort kaufte, war Die Welt im Rücken von Thomas Melle, das mit der Zeile beginnt: »Ich möchte Ihnen von einem Verlust berichten. Es geht um meine Bibliothek. Es gibt diese Bibliothek nicht mehr. Ich habe sie verloren.« Und ich bin selbst daran schuld, auch daran, dass jetzt niemand anders dort mehr fliegen lernen kann.
Schließende Buchhandlungen sind in der Stadt, in der ich aufgewachsen bin, nichts Neues. Zuerst, vor Jahren schon, machte eine andere Buchhandlung am Marktplatz zu, eine Kette hatte sie erst gekauft und nach ein paar Jahren als eine der umsatzschwächsten Filialen im Konzern geschlossen. Ein Dekoladen zog ein. Kurz vorher hatte hatte eine andere Kette eine Filiale am anderen Ende des Marktplatzes eröffnet, auch sie lief nicht gut genug. Ein Dekoladen zog ein. Eine dritte Buchhandlung schloss, weil gleich der ganze dahinterstehende Konzern pleite ging. Ein Dekoladen zog ein. Was mit dem Leerstand passiert, der bisher ein Haus voller Bücher im Herzen der Stadt war – es gibt Vermutungen.
Aber dass es Leuten weniger peinlich ist, mit Bettwäsche und Duftkerzen gesehen zu werden als mit Büchern, verstehe ich trotzdem nicht so ganz.
Foto: beornbjorn / photocase.de