Die Brauenbalkenthese

Modetrends können viel darüber verraten, wohin sich die Gesellschaft entwickelt, findet unsere Autorin. Derzeit sind üppige Augenbrauen in - könnte das ein Anzeichen für eine gelungene Integration sein?

Cara Delevingne trägt buschig – die Augenbrauen sind ihr Markenzeichen.

Foto: AFP

Berühmt ist mittlerweile die Rocksaumtheorie des Wirtschaftswissenschaftlers George W. Taylor, die besagt, die Länge der Röcke verhielte sich proportional zum New Yorker Aktienindex, also im Grunde genommen zur Weltwirtschaft. Man hat das überprüft, von 1921 bis 2009, und sie nur insofern nachkorrigieren müssen, dass der Rock mit einer Verspätung von etwa drei Jahren auf den Index reagiert. Aber generell gilt: Je größer der Aufschwung, desto kleiner die Röcke. Daran haben wir uns gewöhnt und es juckt nur noch hinterwäldlerische Schulleiterinnen, wenn der Aufschwung so bombe ist, dass alle Mädchen mit ihren Pobacken wie selbstverständlich raus an die Luft gehen. Mittlerweile regen wir uns lieber über Kopftücher auf, also über zu viel Verhüllung. Daher ist es Zeit für eine neue These und ich möchte an dieser Stelle die Brauenbalkentheorie zur Diskussion stellen.

Ebenso wie Rocksäume unterliegen Augenbrauen modischen Auf- und Abschwüngen. Mal sollen sie voll sein, natürlich, stark und buschig und dann wieder hauchdünn, zart oder gar nicht vorhanden. Renaissance in Europa: haarlos, Japan im 12. Jahrhundert: aufgemalt, England im 18.: Mäusefelle als Augenbrauenersatz und dann im 20. Jahrhundert eine rasante Beschleunigung der Brauenmodenwechsel: Dreißiger – dünner Strich (s. Marlene Dietrich), Fünfziger – dicke Brauen mit Knick (Audrey Hepburn), Siebziger – alles weg und dann drüber malen, Achtziger - stark (Brooke Shields), Neunziger – zart wie ein Reh (Wynona Rider).

Mal heißt es, die Braue habe dünn und licht zu sein, damit der Blick frischer und jugendlicher wirkt; kurz drauf ist die halbe Welt überzeugt, nur die volle Braue demonstriere jugendliche Kraft und Wildheit. Vor 15 Jahren haben Wissenschaftler, also plastische Chirurgen, den (im Jahre 2003) perfekten Brauenbogen vermessen: Wirklich schöne Frauen, also Modells, hatten einen Brauenbogen von 98 Prozent über Null. Das heißt: Wenn der innere Augenwinkel den Nullpunkt darstellt, lag der höchste Punkt der Augenbraue eines Modells bei 98 Prozent der Augenbreite. Bei normalen Frauen hingegen befand sich der Höhepunkt im Durchschnitt bei 93 Prozent, war also ein klitzekleines bisschen zur Nase hin verschoben. Um uns dem 98prozentigen Meisterwerk menschlicher Schönheit anzugleichen, hatten wir Frauen – naiven Naturmenschen muss man das erklären – in den Brauen herumzuzupfen.

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Die Haut um die Augen ist dünn und sensibel. Wenn man da Haare ausreißt, tut das weh. Man beginnt, Reflex, zu weinen. Man sieht nichts mehr. Zupft aber weiter. Es entstehen Knicke, Ungeraden, Löcher. Man sieht aus wie ein gerupftes Huhn. Und nicht Winona Ryder, das Reh. Doch schließlich, nach ein paar Jahren Selbstverstümmelung, hat man’s raus und fühlt sich ganz nah dran an Marlene Dietrich, der Göttlichen. Man hat es geschafft, man fühlt sich überlegen. In der Soziologie nennt man diese Selbstüberhöhung »Distinktion«, und damit geht einher die »mehr oder weniger bewusste Abgrenzung von Angehörigen bestimmter sozialer Gruppierungen (z.B. Religionsgemeinschaften, Klassen oder auch kleinerer Einheiten wie etwa Jugendkulturen)«. Das hat zur Folge, dass man über die Anderen und ihre Moden und Schönheitsideale abzulästern beginnt, nur um sich untereinander seiner (völlig affigen) Überlegenheit zu versichern.

Meine Kosmetikerin, selbst halbe Iranerin, bisschen überassimiliert, zog beispielsweise vor Jahren noch über »die Frauen in Teheran« her - mit ihren »megahässlichen dicken Balken« über den Augen. Als Frau, die ihre Haare verhüllt und trotzdem schön, stark und sexy rüberkommen will, konzentriere man sich aufs Gesicht. Ich war mal im Iran und tatsächlich jeden Morgen erschrocken über das blasse Gesicht unter dem dunklen Tuch, das mich da aus dem Spiegel anstarrte. Also beginnt man, sich die Lippen voll, die Augen bunt und die Brauen stark zu malen. Und so entwickelte ich meine Brauenbalkenthese.

Sie kommt nicht aus der Wirtschaftswissenschaft, sondern aus dem Bereich der Integrationsforschung und besagt: Wir befinden uns auf direktem Weg in die Einwanderungsgesellschaft. Endlich, juhu! Denn während sich einige Vollhonks lauthals über »Kopftuchmädchen« echauffieren, haben andere still und leise ein Schönheitsideal übernommen. Was ist seit einiger Zeit total angesagt? Genau, der orientalische Brauenbalken! Kosmetikketten verkaufen Brauenbalkenmalsets, Vorzeige-Modells wie Cara Delevingne tragen mittlerweile buschig – bis fedrig, als wahre Synthese. Und bald, da bin ich 98pro sicher, werden plastische Chirurgen anhand von Messungen an Brauenhaardichte, Brauenhaarfarbe und Brauenhaarform beweisen: Wir sind auf dem Weg in die offene Gesellschaft!

Wer meint, die Brauenbalkenthese sei zu gewagt, dem sei gesagt: George W. Taylor wurde im Jahre 1926 sicher auch für einen Phantasten gehalten. Kurze Röcke... Roaring Twenties... Es geht bergauf... Die Geschichte durchleidet Rückschläge, schreckliche Rückschläge. Doch das Gute wird siegen! Es lebe der Brauenbalken!