Benefizrocker

Stellen wir uns mal vor, eine Verkettung von Zufällen oder auch nur die Grausamkeit der Bühnenregie würde bei Live 8 am Samstag die Stimmen von drei Künstlern gleichzeitig in Gesang ausbrechen lassen: Bono (knödelnd in London), Chris De Burgh (jaulend in Berlin) und Andrea Bocelli (jaulknödeldonnernd in Paris). Man könnte das ohne Probleme zusammenschalten und der Effekt wäre gewaltig. Stellen wir uns weiterhin vor, allein diese Darbietung und die Tatsache, dass wir sie aushalten, ohne dass uns der Schädel platzt, könnte die Welt retten und die Armut in Afrika beenden. Wegdonnern. Kleinknödeln. Davonjaulen. Würden wir fliehen? Würden wir abschalten? Würden wir die Ohren schließen und die Augen abwenden, wenn am Ende noch eine Mariah-Carey-Großaufnahme sanft in ein Meer von Feuerzeugen überblendet wird, und das Meer der Feuerzeuge in das entrückte Antlitz von Wolfgang Niedecken? Natürlich nicht: Benefizrock verlangt Opfer. Berühmte Musiker opfern einen Abend ihrer Zeit und schenken uns eine Darbietung ihres Könnens, ja sie begraben, wie Pink Floyd, sogar uralte Feindschaften innerhalb der Band für den guten Zweck. Wir versprechen im Gegenzug, entweder unser Geld direkt nach Afrika zu schicken oder aber unsere Politiker ultimativ aufzufordern, dies mit unserem Steuergeld zu tun. So geschah es bei den großen Live Aid-Konzerten vor zwanzig Jahren, so wird es in den nächsten Tagen bei Live 8 geschehen. Und die Politiker machen mit, weil die Stimmung gerade super ist und es sowieso nicht um ihre eigene Kohle geht. Eigentlich eine tolle Sache. Der Benefizrocker, prototypisch verkörpert vom irischen Musiker Bob Geldof, ist dennoch eine höchst seltsame Figur. Indem er eine berufliche Leistung (Musik machen) an ein moralisches Projekt (Welt retten) knüpft, vermischt er eigentlich inkompatible Sphären. Anders ausgedrückt: Er betäubt unser Urteilsvermögen – auch bekannt als »Musikgeschmack« – mit unserem schlechten Gewissen.Wie seltsam das wirklich ist, zeigt ein kurzer Selbsttest in fünf Stufen, den fast jeder an seinem Arbeitsplatz durchführen kann: a) Wir erklären am Montag im Büro, dass unser Gehalt für diese Woche bitte direkt an die Welthungerhilfe überwiesen werden soll. b) Wir machen gleich mal länger Mittagspause, schließlich sind wir es, die hier ein beachtliches Opfer bringen. c) Ein Kollege findet unsere Arbeit mangelhaft; wir bezeichnen ihn als herzloses Monster und machen ihn für den Tod von Waisenkindern in Äthiopien verantwortlich. d) Einem Kunden, der nicht bei uns kaufen will, weil das Produkt »zu sehr nach Jaulknödeldonner klingt«, reden wir ins Gewissen: Wollen Sie wirklich die Chance verpassen, die Armut auf diesem Planeten zu überwinden? e) Unser Chef fordert uns ultimativ auf, den Unsinn zu lassen. Er sagt, wir könnten unseren Lohn auch stillschweigend spenden, ohne bei der Arbeit diesen wahnsinnigen Gutmenschen-Bonus zu fordern. Wir müssen einsehen, dass er Recht hat. Diese Wahrheit gilt, nebenbei gesagt, nicht nur für uns: Auch Bill Gates zum Beispiel würde ausgelacht, wenn er plötzlich mit der Idee ankäme, Windows für einen guten Zweck zu verkaufen. Nein, wir brauchen seine verdammte Software, genauso wie wir gute Musik brauchen. Dadurch ist er erstens einer der reichsten Männer der Erde geworden und – danach erst – einer der größten Spender überhaupt. Das eine hatte mit dem anderen, glücklicherweise, nicht das Geringste zu tun. Beim Benefizrocker dagegen weiß man nie: Will er die Augen der Welt nun wirklich auf die gute Sache lenken – oder doch eher darauf, wie toll das neue Album klingt? Fordert er Aufmerksamkeit für die Opfer und Entrechteten – oder doch nur für sich selbst? Und denkt er wirklich, dass alle Probleme des Universums ganz einfach zu lösen sind, so einfach etwa wie ein guter Popsong? Sagen wir es so: Sollte die Armut in Afrika demnächst tatsächlich verschwunden sein, wollen wir nie etwas gesagt haben.