Betreffzeile

Sie arbeitete in einer anderen Abteilung der Agentur, lief ihm hin und wieder am Kopierer oder im Eingangsbereich über den Weg. Die beiden kannten sich kaum, wechselten nur manchmal E-Mails, wenn es um allgemeine, sämtlich Bereiche des Unternehmens angehende Fragen ging. Es waren geschäftsmäßige, mit den üblichen, flüchtig hingeschriebenen Stichwörtern in der Betreffzeile versehene Mails. Er hatte die neue Kollegin sofort bemerkt; sie gefiel ihm, und er hatte schon lange mit dem Gedanken gespielt, sie einmal auf einen Kaffee einzuladen. Als er sich schließlich dazu durchrang, ihr eine Mail zu schreiben, zum ersten Mal also vom geschäftlichen in den privaten Tonfall wechselte, war es gerade die Betreffzeile, die ihm Schwierigkeiten bereitete. Er fand lange kein richtiges Wort: »Kaffee« klang zu hölzern, »Treffen« zu offiziell, ein vages und seine Absichten noch nicht preisgebendes »Hallo« nicht verbindlich genug. Ebenso unpassend wäre ihm auch etwas bemüht Originelles erschienen. Das Ausfüllen der Leiste dauerte länger als die Mail selbst, ja mit einer guten Betreffzeile, so dachte er, war dem Erfolg vielleicht schon der Weg geebnet. Er entschied sich schließlich für ein einfaches Satzzeichen, ein »?«. Ihre bejahende Antwort eine halbe Stunde später, verbunden mit der Frage, wo sie sich treffen sollten, war mit »!« überschrieben: ein Einfall, der seine Begeisterung für sie noch steigerte. In den Wochen darauf sahen sie sich häufiger, kamen einander näher, und die Betreffzeile der Mails war in dieser Zeit ein verdichteter Ort ihrer Gemeinschaft. Anfangs war das Ausfüllen auch mit Wagnissen verbunden, etwa mit dem Abtasten eines gemeinsamen Verständnisses für Ironie. Sie hatte ihm am ersten Nachmittag von einem sympathischen, aber etwas aufdringlichen Nachbarn in ihrem Wohnhaus erzählt, einem spanischen Austauschstudenten, der mit ihr ausgehen wollte und immer wieder mit denselben Worten fragte, ob sie ihm »kulturelle Nachhilfe« in der Stadt geben wollte. Also schickte er seine Einladung zu einem Konzert mit der Betreffzeile »Kulturelle Nachhilfe« – mit leichter Unsicherheit, ob diese Anspielung auch von ihr richtig verstanden würde. Die Mails am Tag nach den ersten Treffen wiederum, wenn sie den Kontakt nicht abreißen lassen wollten, nahmen mit einer beiläufigen Pointe Bezug auf den Abend zuvor; in einem Restaurant hatten sie sich etwa über die Diktion der Speisekarte lustig gemacht, und ihre Mail am Morgen darauf war mit »Dialog von Edelfischen« überschrieben.Immer noch flammt in kulturkritischen Abhandlungen der Verdacht auf, die E-Mail lasse die Sprache verrohen, nach der Ersetzung der brieflichen durch die elektronische Kommunikation gebe man sich nicht mehr genügend Mühe beim Formulieren. Übersehen wird in diesen Reden, dass das neue Medium einen Ort bereithält, der Bedeutung schon vor der Anrede, vor dem eigentlichen Text herstellt. Die Betreffzeile, im Zeitalter des Briefes allein ein biederes Element der Geschäftskorrespondenz, stellt im privaten Kontext ein Forum zur Verfügung, das zu sprachlicher Sorgfalt und Ausdruckskraft anreizt.Die Liebesbeziehung zwischen den beiden Bürokollegen dauerte nur kurze Zeit. Doch so wie zu Beginn war es auch am Ende der Liaison gerade die Betreffzeile ihrer E-Mails, die das erste Indiz einer Veränderung lieferte. Sie war seit Längerem nicht mehr im Büro gewesen; am Telefon gab sie Verpflichtungen vor, und er hatte schon geahnt, dass etwas nicht stimmte. Er schrieb ihr eine längere Mail, erinnerte sie an den letzten gemeinsamen Abend, als sie einen Pullover in einem Schaufenster entdeckt hatte, den sie gern einmal anprobiert hätte. Er überschrieb die Mail, in der er sie fragte, ob sie zusammen in das Geschäft gehen wollten, mit »Roter Pullover« – und als er ihre absagende Antwort bekam, war schon vor dem Lesen alles entschieden. Zum ersten Mal, seitdem sie nicht mehr in bloßer Bürokorrespondenz miteinander verbunden waren, hatte sie sich nicht die Mühe gemacht, eine eigene Zeile zu finden. Es stand einfach »Re: Roter Pullover« darüber. Er wusste, dass sie von nun an wieder reine Arbeitskollegen waren.