Börsianer

Nun waren sie wieder zu sehen in den Wirtschaftsressorts der Tageszeitungen und den Aufmachergeschichten der Nachrichtenportale: die Großaufnahmen von Börsenmaklern, deren Gesichter gezeichnet sind von den aktuellen Kurseinbrüchen. Fassungslos und erschöpft registrieren sie das ganze Ausmaß der Katastrophe, nachdem das Stimmengewirr auf dem Parkett verklungen ist; die am Morgen noch akku- rate Kleidung zerknittert, die Hemdsärmel aufgekrempelt.

Die Bebilderung des Börsencrashs in den Medien ist in auffallendem Maße standardisiert. Es werden immer dieselben Fotos von Brokern gezeigt, die, eine Hand auf die Stirn gestützt, ins Leere blicken. So eingeschränkt ist der Bestand der Porträtierten, dass der meistfotografierte unter ihnen, der Frankfurter Börsenmakler Dirk Müller, in den letzten Jahren sogar öffentliche Bekanntheit erlangt hat, ja sogar zum »Gesicht des DAX« wurde, wie es in zahlreichen Zeitungsartikeln über ihn hieß.

Doch woran liegt es, dass sich die Medien in der Berichterstattung über Börseneinbrüche immer für dieselbe Bildsprache entscheiden? Die Formulierung »Gesicht des DAX« gibt bereits darüber Aufschluss. Denn es geht um die Frage, wie sich das hochkomplexe und -abstrakte Gebilde des Aktienhandels überhaupt als ein von Menschen betriebenes und verantwortetes visualisieren lässt. Solange die Börse unauffällig arbeitet, ist es für die Öffentlichkeit praktisch nicht möglich, einen direkten Zusammenhang herzustellen zwischen der Tätigkeit der Broker und den leichten Veränderungen der Aktienkurse, die später in den Nachrichtensendungen veröffentlicht werden. In Fernsehformaten wie boerse im Ersten wird dieses Darstellungsproblem Abend für Abend deutlich. Im Vordergrund kommentiert ein Moderator vor Ort die Ereignisse des Tages, am unteren Rand des Bildschirms verläuft ein Band mit Kursen, im Hintergrund sitzen ein paar Börsianer an ihrem Computer. Der Zuschauer wäre auch beim besten Willen überfordert, eine klare Verbindung zwischen diesen einzelnen Elementen der Berichterstattung zu erkennen.

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In ruhigen Zeiten erscheint die Börse für den Laien wie eine rätselhafte Theateraufführung, die Broker wie Darsteller, die routiniert ihre Rollen einnehmen. Das Gewicht der Finanztransaktionen, die beträchtlichen Summen, um die es geht, werden in der symbolischen Anordnung von Kurven und Zahlenkolonnen nicht fassbar. Und solange der Aktienhandel nicht kollabiert, wie in den letzten zehn Tagen, bleibt das Wissen um die Realität des Geldes, an dem Existenzen und Karrieren hängen, vielleicht auch für die Akteure selbst, nichts als ein ritualisiertes Spiel. Genau vor diesem Hintergrund muss man die Beliebtheit der Fotos von zerknirschten Brokern verstehen. Sie machen die reale Macht und Verantwortung des Börsenhandels für einen Moment sichtbar. Die drastische Mimik der Abgebildeten veranschaulicht, was im abstrahierten Arbeitsalltag verdeckt bleibt. Die Müdigkeit, die von den Gesichtern und Körpern ausgeht, repräsentiert auch den kurzzeitigen Zusammenbruch des so nervösen Milieus der Börse selbst; das ganze System scheint für einen Moment auf den Boden der Realität zurückgeholt.

Auf den Onlineseiten des amerikanischen Magazins Details steht derzeit ein Bilderrätsel, auf dem sich der Leser durch eine Reihe von Männergesichtern in Nahaufnahme klicken muss. Es geht darum zu erraten, welche Gesichter von Börsenmaklern nach dem Crash stammen und welche von Pornodarstellern im Augenblick des Orgasmus. Dass das Magazin überhaupt auf die Idee gekommen ist, diese beiden Situationen miteinander in Beziehung zu setzen, spricht für die Intensität und Ausdruckskraft, die man den Broker-Porträts mittlerweile zugesteht. Der sexuelle Höhe-punkt, so heißt eine bekannte französische Redewendung, sei »ein bisschen wie sterben«. Der zerknirschte Börsianer steht für den Infarkt der Börse.