Moleskine

Dieser schwarze, matt glänzende Einband, dieser stramme Gummizug, dieses praktische Lesebändchen: Ist der Blick erst einmal für die Besonderheiten des Moleskine-Notizbuchs geschärft, sieht man die verdammten Dinger plötzlich überall. Keine Frage, es geht um einen Massentrend, um ein Zeichen der Zeit und darum, dass die Form dem Inhalt mal wieder den Stinkefinger zeigt. Es spielt nicht die geringste Rolle, was Sie in ein Moleskine hineinschreiben. Entscheidend ist, dass Sie es im richtigen Moment aus der Tasche ziehen, dass Sie es souverän zu handhaben wissen und dass Sie den simplen Vorgang, das Ergebnis einer Hirntätigkeit zu notieren, auffällig und vor Publikum erledigen. Das funktioniert fast überall – im Seminar, in der Konferenz, im Gespräch oder auch als einsamer Reisender auf einem Zwischenstopp im Café. Damit der Auftritt am Ende stimmt, kommt es allerdings auf die Nuancen an.In Kaffeehaus-Atmosphäre zum Beispiel steht der Moleskine-Einsatz für die Idee vom ewig unbehausten, nomadischen Weltbeobachtertum. Besonders als junger Mann gerät man mit Moleskine sofort unter Dichter- und Denkerverdacht, was Frauen unweigerlich zu dem Schluss führt, dass man den besser nicht ansprechen sollte. In einer Vorstandssitzung, verbunden mit einer drahtigen Assistentenfresse und einem Montblanc-Füller, zeugt das Buch von Ergebenheit: Die Worte des großen Bosses, der selbst natürlich nicht schreibt, müssen in gültiger Form notiert werden. Im Brainstorming-Kontext der Kreativszene wiederum zählt das gemeinsame »Zurück zu den Wurzeln«-Gefühl: Was haben wir nicht an digitalen Organizern und Gadgets durchprobiert! Am Ende aber (und hier bitte ein hilfloses, aber gleichzeitig triumphales Grinsen) kommen wir ja doch nur mit Stift und Papier klar.Nur die größten Moleskine-Fanatiker glauben allerdings, mit ihrem schwarzen Begleiter wirklich auf den Spuren von Hemingway, Picasso oder Bruce Chatwin zu wandeln. Als Marketing-Faltblatt liegt die Story von den großen Vorbildern zwar jedem Büchlein bei und wird in Lifestyle-Artikeln pausenlos nachgebetet – aber die Details stimmen leider überhaupt nicht.Jenes Notizbuch, das früher wirklich in der Pariser Künstler- und Literatenszene Verwendung fand, war mit einem Baumwoll-Wachsstoff namens »Moleskin« (Maulwurfshaut) bezogen. Die italienische Firma allerdings, die aus dem Begriff später ein eingetragenes Warenzeichen machte und im Jahr 1998 einen Notizbuch-Boom lancierte, hatte erstens damit nicht das Geringste zu tun und verwendet zweitens – unerklärlicherweise – einen Einband aus Leder-imitat made in China. Wer in diese millionenfach produzierte Ersatz-Legende eine Idee à la »Alter Mann. Meer. Großer Fisch.« hineinkritzelt, sollte also nicht ernsthaft mit dem Nobelpreis rechnen. Den wahren Zweck dieses eigentlich viel zu teuren Wegbegleiters zeigt erst eine Langzeitstudie im Selbstversuch. Wer mehr als zehn Euro für so wenig Papier zum Vollschreiben ausgibt, hat das Gefühl, seine Aphorismen, Bonmots und Ideen an einem wertvollen Ort geborgen zu haben, der ihrer einzigartigen Qualität entspricht. Dort ruhen sie dann, sicher durch das Gummi zusammengehalten, und warten auf ihren Einsatz zu gegebener Stunde. Selbst für den schrecklichen Fall ihres Verlustes ist vorgesorgt, denn natürlich hat man sofort auf der ersten Seite notiert, an wen das Buch im Fall der Fälle geschickt werden soll, inklusive Finderlohn in US-Dollar. Schließlich aber ist das Ding voll, nun eine unersetzliche Schatztruhe der Kreativität, wird ins Regal gestellt und – jawohl, ungelogen – nie wieder angeschaut. Erst so, im Rückblick, offenbart sich die ganze Wahrheit: Das Moleskine schützt die Welt genau vor jenem Tiefsinn, mit dem man sonst seine Mitmenschen nerven müsste, und es schließt gerade die peinlichsten Geistesblitze sicher weg: Ein kleiner Giftschrank mit pietätvollen schwarzen Deckeln, ein Ideenbegräbnis allererster Klasse.