Rückennummer

Die Rückennummern im Fußball, immer schon mehr als ein bloßes Hilfsmittel, um die Spieler unterscheiden zu können, haben in den letzten Jahren ihre Aussagekraft eingebüßt. Seit 1995 wird jedem Bundesliga-Spieler zu Beginn der Saison ein eigenes, mit Namenszug und fester Nummer versehenes Hemd zugewiesen: eine ökonomische Strategie, die sich bewährte und den Verkauf von Fußballtrikots um ein Vielfaches steigerte. Aufgetrennt hat diese Marketingidee aber einen über Jahrzehnte hinweg gewachsenen Bezug: den zwischen Rückennummer und Spielposition. Dass der Rechtsverteidiger die 2, der Mittelstürmer die 9, die Auswechselspieler die 12 bis 16 trugen, galt als verbindlich; heute kann es geschehen, dass in der Stammelf einer Mannschaft fast nur noch Nummern zwischen 17 und 99 vertreten sind.Die Beliebigkeit der nach oben hin fast offenen Wahl hat dafür gesorgt, dass die vertraute Prägung der traditionellen Nummern langsam abblättert und unlesbar wird. Stellt sich bei fußballbegeisterten Kindern heute noch die überlieferte Assoziation ein, wenn sie einen Spieler mit der Nummer 4 oder 7 sehen? Denn darin lag ja gerade das Stimmige dieser alten Ordnung: dass bereits die Gestalt der Zahl auf den Charakter ihres Trägers hinzuweisen schien; dass es stumpfe und filigrane Rückennummern gab, so wie auch die Mannschaft aus biederen und eleganteren Fußballern bestand. Es konnte keine bloße Willkür sein, dass etwa die 7 und die 11, diese schmalen, dynamischen Ziffern, den Außenstürmern zugeordnet waren, schmächtigen Spielern, die an den Flügeln auf einen Steilpass lauerten. Niemals hätte ein Kevin Keegan oder ein Calle Del’Haye eine bauchige 6 oder 8 tragen können; diese Nummern gehörten zu den defensiven Mittelfeldmännern zentral und rechts, die den Raum absicherten und deren wuchtiges Auftreten die Zahl auf dem Trikotrücken rechtfertigte. Das Wissen um die Kraft dieser Zeichen, noch in den Partien der jüngsten Schülermannschaften, schuf Voraussetzungen für manches Täuschungsmanöver. In unbedeutenden Freundschaftsspielen erlaubte es der Trainer gelegentlich, dass wir unter falscher Nummer aufliefen und mit einer 2 oder sogar einer 14 auf dem Rücken im zentralen Mittelfeld spielten. Er ließ buchstäblich fünfe gerade sein und es bereitete großes Vergnügen, sich nach dem Anstoß wie ein Betrüger in einen nicht vorgesehenen Teil des Spielfeldes zu begeben und die irritierten Blicke der gegnerischen Verteidiger zu spüren. Etwas von dieser Verwirrungslust wirkt heute noch bei der Wahl der festen Trikots nach, wenn sich ein erfolgreicher Bundesliga-Profi für eine ehemalige Auswechselnummer entscheidet. Er wird getrieben von der Erinnerung an jene Auftritte in den Jugendmannschaften, in denen sich der vermeintliche Nachrücker plötzlich als Torjäger oder Spielgestalter entpuppte. Sind also alle Verknüpfungen zwischen Rückennummer und Spielposition gelöst? Nein, eine Ausnahme gibt es, und zwar die 10. Auch im Zeitalter der freien Trikotwahl wird ihr eine Art natürliche, durch nichts zu verändernde Aussage zugestanden. Sie ist die Nummer der Souveränität, des Überblicks; spätestens seit den Zeiten Pelés steht das Trikot dem »Regisseur« im offensiven Mittelfeld zu und eine Fußballnation wie Argentinien hat sie nach dem Rücktritt Maradonas eine Zeit lang nicht mehr vergeben. Es wäre einem Akt der Entweihung gleichgekommen. Einzig in Gestalt der 10 hat die Regel überlebt, dass bereits die Physiognomie der Ziffer den Charakter einer Position vorgibt. Es ist ein beinahe majestätisches Zeichen, in sich ruhend – die aufrechteste aller Nummern. Die Zahl verleiht ihrem Träger jene Erhabenheit, die sie selbst ausstrahlt; sie stärkt dem Spieler unweigerlich den Rücken, wie man es zuletzt bei Sebastian Deisler beobachten konnte. Als Nummer 10 fand er im Nationalteam zu altem Selbstvertrauen zurück. Von heute Abend an wird er für den FC Bayern München wieder mit der 26 auflaufen und die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sein Spiel so gesichtslos sein wird wie die Zahl, die er auf dem Trikot trägt.