SZ-Magazin: Sie begleiteten eine Frau in ihrer Trauer, deren Tochter ermordet wurde. Woran erinnern Sie sich besonders?
Monika Müller: An das Gesicht der Frau. Sie wirkte wie versteinert, nur ihre Backenmuskeln waren, wenn man genau hinsah, in Bewegung, als würde sie auf etwas beißen. Versteinerte Trauer ist nicht konstruktiv und kann in eine Depression führen. Eine gesunde Trauer hingegen ist in Bewegung, sie klagt, ist wütend, weint und zeigt sich. Das war hier nicht der Fall.
Aus welchem Grund kam die Frau ursprünglich zu Ihnen?
Sie sagte, dass sie wegen ihres Mannes gekommen sei, da dieser mit der Situation nicht zurechtkäme. Ich ahnte schnell, dass sie ihren Ehemann entweder vorschob oder ihr gar nicht bewusst war, dass sie selbst Unterstützung brauchte.
Wie gestaltete sich die Begleitung?
Sie hatte ihre Tochter selber an der Bushaltestelle tot aufgefunden. Wie diese aussah und welche Gefühle das in ihr auslöste, nahm viel Raum ein. Später erzählte sie, dass sie so gerne weinen würde, aber es nicht könne. Die Mutter entwickelte selbstständig eine interessante Strategie: Sie schaute sich im Fernsehen rührselige Filme an, bis diese sie zum Weinen brachten. Wenn sie erst einmal in den Fluss kam, weinte sie stundenlang.
Welche Rolle hatten Sie bei der Trauerbegleitung?
Ich sehe meine Aufgabe grundsätzlich darin, Menschen zu erlauben, Gefühle zu haben. Viele denken, sie müssten bei Trauer traurig sein. Dabei äußert sich Trauer auch in Ohnmacht, Wut, Angst und Verzweiflung. Oft erhalten Trauernde Ratschläge wie »Geh nicht so oft auf den Friedhof, das tut dir nicht gut«, »Du musst das Grab besser pflegen«, »Mach doch mal Urlaub« oder »Nach einem Jahr wird es besser«. Nachbarn und Kollegen sagen auch häufig, man solle loslassen und implizieren damit, man solle sich die Trauer hinter sich lassen. Ich aber sage, dass sie trauern dürfen so lange sie es wollen und brauchen.
Wie ging es weiter?
Die Mutter bestand lange darauf, dass ihr Mann der eigentliche Grund für die Therapie sei. Er kam auch zwei, drei Mal mit. Dabei fiel mir auf, dass die beiden nicht im Gleichklang trauerten. Das ist typisch: Die beiden hatten falsche Erwartungen und dachten, sie müssten sich gegenseitig begleiten. Obendrein hatten sie noch eine jüngere Tochter, auf die sich beide mit unglaublicher Fürsorge stürzten. Und es gab ein großes Missverständnis: Die Mutter klagte, dass ihr Mann zu viel sexuelle Nähe suchte. Als ich den Mann fragte, sagte er betroffen, er versuche damit, Nähe zu zeigen. Als Trauerbegleiterinnen sind wir manchmal auch Dolmetscher. Es war für die Mutter wichtig zu verstehen, dass ihr Mann kein dauerwollendes Monster ist, sondern dass er versucht, Geborgenheit auszudrücken.
»Die Menschen wachsen, während sie Trauer durchleben, und erlangen ein anderes Lebensverständnis«
Wie hat sich die Mutter entwickelt?
Nach einem Jahr wurde der juristische Prozess eröffnet. Das war eine schwere Zeit, denn der Prozess fand größtenteils öffentlich statt. Dabei kam in unseren Sitzungen ein großes Thema auf: Rache. Die Mutter wollte den jungen Mann am liebsten umbringen. Doch sie durchlebte eine unglaubliche Entwicklung und erkannte, dass das ihre Tochter auch nicht mehr zum Leben erwecken würde. Ich habe gestaunt, denn sie war noch jung, Ende Dreißig. Nach zwei bis drei Jahren tritt oft eine Lebensvertiefung bei Trauernden ein. Die Menschen wachsen, während sie Trauer durchleben, und erlangen ein anderes Lebensverständnis.
Wann ist eine Trauerbegleitung abgeschlossen?
Stellen Sie sich vor, Sie begleiten eine Freundin auf eine Wanderung. Da legen sie im Vorhinein fest, wie lange sie wandern und wohin. So ähnlich überlegen auch wir mit den Trauernden, wobei wir sie begleiten sollen. Wenn wir das Gefühl haben, dass das Vermissen und die Sehnsucht zwar nicht weg, aber handhabbar sind, machen wir das Angebot, die Begleitung zu beenden. Bei diesem Fall erstreckte sich die Begleitung über zweieinhalb Jahre. Zunächst trafen wir uns wöchentlich, danach alle 14 Tage und zuletzt nur noch einmal im Monat.
Wieso war diese Begleitung der Fall ihres Lebens?
Zunächst hat der Fall mich wahnsinnig erschreckt. Ich dachte, dass ich diese Begleitung nicht leisten könnte. Denn ich hatte damals selbst Töchter in einem ähnlichen Alter. Aber diese Frau war schon von unfassbar vielen Einrichtungen und Personen abgewiesen worden, sodass ich letztlich einwilligte. Anfangs habe ich die Geschichte mit nach Hause genommen, habe schlecht geschlafen und bin manchmal mitten in der Nacht aufgewacht. Ich habe während dieser Begleitung aber gelernt, dass der Anlass von Trauer zwar noch so furchtbar sein kann, dass die Trauer aber trotzdem ähnlich zu anderen Fällen verläuft. Und mir wurde klar, wie wichtig es ist, sich auch herausfordernden Geschichten mit einer Unerschrockenheit zu stellen. Es macht mich sehr froh, eine Hilfestellung für andere Menschen sein zu können. Das gibt meinem Leben Sinn.