Reist man im Auto sicherer als im Zug?

Hinterm Steuer kann man sich kaum mit dem Virus anstecken. Aber die meisten Autofahrer verkennen die Risiken auf der Straße.

Illustration: Nishant Choksi

Die Züge sind leer dieser Tage. Gleichzeitig war ich überrascht, als ich zu Beginn des Lock-Downs einmal mit dem Auto unterwegs war: Trotz Corona waren die Straßen recht voll. Den gleichen Eindruck habe ich auch jetzt noch, wenn ich beim Spazieren gehen eine Schnellstraßenbrücke überquere. Könnte es sein, dass viele Menschen im Moment mit dem Auto statt mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren? Zumindest meine Schwiegereltern bevorzugen im Moment den PKW gegenüber den sonst präferierten Bahnen. Weil ihnen die Gefahr zu hoch erscheint, sich im Zug mit dem Virus Sars-Cov2 zu infizieren. Der Gedanke ist ja auch naheliegend. Während man in der Bahn auf potenzielle Virenschleudern trifft, schottet man sich im Auto von der Umwelt ab und kann höchstens mit viel Pech an der Tankstelle von einem unbekannten Infizierten angesteckt werden.

Als ich also als Mitfahrer neben meiner einjährigen Tochter auf dem Rücksitz saß, fühlte ich mich tatsächlich sicher, wie gepanzert gegen die feindliche Umwelt. Dann kam von hinten ein Audi angerast, etwa 180 Kilometer pro Stunde schnell, Lichthupe, Platz da. Wenn der auf uns aufgefahren wäre – wären wir dann noch am Leben? Ist es also momentan wirklich sicherer, mit dem Auto zu fahren als mit dem Zug?

»Mit dem Umsteigen von der Bahn aufs Auto vermindern die Leute zwar die Anzahl sozialer Kontakte und dadurch die Ansteckungsgefahr, allerdings setzen sie sich damit einer anderen Gefahr aus«

Meistgelesen diese Woche:

2019 gab es laut offizieller Statistik 384.000 Verletzte und 3059 Tote im deutschen Straßenverkehr. Darin enthalten sind allerdings auch bei Verkehrsunfällen umgekommene Fußgänger. Im selben Jahr verunglückten in Deutschland 128 Menschen tödlich im Eisenbahnverkehr – allerdings kam fast niemand davon auf einer Zugreise ums Leben, sondern entweder an Bahnübergängen (35), oder sie wurden anderswo angefahren (91). Das Risiko, auf einer Bahnfahrt ums Leben zu kommen, ist also äußerst gering.

»Ganz grob geschätzt kann man sagen, dass die Gefahr im Straßenverkehr zu sterben um mehr als das 20-fache größer ist«, sagt Mirjam Jenny, Leiterin des Harding-Zentrums für Risikokompetenz an der Universität Potsdam. Das Institut veranschaulicht die verschiedenen Gefährdungspotenziale mit einem Fußballstadion. Von 20.000 Zuschauern (zum Vergleich: das größte deutsche Stadion in Dortmund hat 80.000 Plätze) stirbt durchschnittlich einer während eines Jahres im Straßenverkehr.  Es ist also nicht ganz ungefährlich da draußen. Dagegen: Unter einem zufällig aus der bundesdeutschen Bevölkerung zusammengesetzten Publikum würden – wenn man die offiziellen Fallzahlen zugrunde legt – derzeit 26 Corona-Infizierte befinden. Und (noch!) würde statistisch gesehen unter diesen 20.000 niemand am Virus sterben (die Corona-Todesfälle werden recht zuverlässig erfasst). So gesehen ist es gerade gefährlicher, mit dem Auto zu fahren, als sich in öffentlichen Verkehrsmitteln Corona auszusetzen.

Natürlich kennt derzeit niemand die tatsächliche Zahl der Infizierten, die Dunkelziffer dürfte viel höher sein. Darüberhinaus zeigen uns Zustände wie in den italienischen Krankenhäusern, dass es wichtig ist, genau jetzt die Weiterverbreitung des neuartigen Coronavirus zu verlangsamen. Dennoch hält Mirjam Jenny es für keine gute Idee, jetzt grundsätzlich von der Bahn aufs Auto umzusteigen. »Damit verringern die Leute zwar die Anzahl sozialer Kontakte und dadurch die Ansteckungsgefahr, allerdings setzen sie sich so einem anderen Risiko aus«, sagt die Psychologin. Sie befürchtet, dass nun Menschen das Auto nutzen, die normalerweise weniger fahren und deshalb womöglich ungeübter seien. »Wir haben es hier also mit einer Situation zu tun, in der die Menschen versuchen, ein Risiko zu verringern und dabei ein anderes, ernstzunehmendes Risiko erhöhen«, sagt Jenny. »Stattessen könnten wir uns alle die aktuelle Situation zum Anlass nehmen, uns klimafreundlicher zu verhalten, indem wir insgesamt weniger fliegen und mit dem Auto reisen. Perspektivisch reduzieren wir damit eines der größten Risiken für die Menschheit.«

Da kann ich mich nur anschließen. Was Covid-19 betrifft, bleibt die Maxime: Stay the fuck at home. Denn: Das Bundesinnenministerium geht in dem Strategie-Papier »Wie wir Covid-19 unter Kontrolle bringen« im Best-Case-Szenario »Hammer und Tanz«, das im Moment angestrebt wird, auf dem Höhepunkt von einer Million Infizierter aus. Das würde im 20.000-Zuschauer-Stadium bedeuten: 250 Infizierte und drei Tote. Umso größer wird die Vorfreude auf die nächste Reise. In meiner Vorstellung sitze ich im warmen Abendlicht in einem ICE und fahre durch ein Land, in dem die Bäume grün sind, die Felder golden und in dem die Coronakrise eine seltsame Erinnerung ist. Hoffentlich noch in diesem Jahr.