Der Kick der Verspätung

Wenn die notorisch verspätete Deutsche Bahn Städte in der Schweiz, dem Musterland der Pünktlichkeit, ansteuert, kommt es regelmäßig zum Clash der Kulturen – und die Reisenden erleben unfreiwillig eine spannende Zeit.

Illustration: Nishant Choksi

Momentan bewirbt die Deutsche Bahn wieder das Bahnfahren in die Schweiz mit Direktverbindungen etwa aus Hamburg, Frankfurt und Stuttgart. Diese Verbindungen, ich kann es nicht anders sagen, sind großartig. Mit dem ICE kann man ohne Umsteigen nach Chur, Landquart oder Interlaken fahren – im Winter ist man dort dann schon fast in den großen Skigebieten Davos, Laax oder Grindelwald. Dorthin kommt man jeweils schnell. Denn es stimmt ja, was die Deutsche Bahn auf ihrer Webseite über die Schweiz schreibt: »Auf dem dichtesten Verkehrsnetz der Welt pendeln die Züge im Stunden- oder Halbstundentakt, immer zur selben Minute!«

Der Hinweis auf die Pünktlichkeit des öffentlichen Verkehrs in der Schweiz ist natürlich wichtig für die deutschen Gäste, die mit diesem Phänomen nicht vertraut sind. Was die DB leider nicht verrät: Genau diese Pünktlichkeit kann schnell zum Problem werden, wenn man in einem Zug unterwegs ist, der von Deutschland kommt und ein Ziel mitten in der Schweiz anfährt. Denn deutsche Züge haben nun mal regelmäßig Verspätung - während Schweizer Züge in der Regel pünktlich sind. Die Schweizer wollen, dass das so bleibt und ihr System nicht aus dem Lot kommt. Und während sich also der ICE aus Frankfurt nach Chur der Grenze nähert, zittern die Fahrgäste, die öfter auf dieser Strecke unterwegs sind.

Auf den Strecken in die Schweiz geht es nämlich bei Verspätungen nicht nur darum, ob man Anschlusszüge verpasst – hier geht es auch darum, ob man vorzeitig seinen reservierten Sitz räumen muss, weil der Zug außerplanmäßig direkt hinter der Grenze endet. Wenn die Verspätung nämlich zu groß wird, sagen die Schweizer Bundesbahnen (SBB): Nein danke, bitte alle aussteigen in Basel und auf den nächsten regulären Zug nach Zürich warten. Das ist mir schon mehrfach passiert.

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An diesem Tag ist die Spannung kaum auszuhalten. Denn mein Zug hat vor Freiburg 15 Minuten Verspätung. Das es ist noch nicht hoffnungslos, denn an der Grenze gibt es 13 Minuten Puffer. Es wird knapp. Die Spannung wird dadurch erhöht, dass ich sehr viel Gepäck dabei habe: Reisetasche, Rucksack, Koffer. Ich dachte, dass sei kein Problem, denn fahrplangemäß muss ich ja nur einmal umsteigen - in Landquart.

Falls die Schweizer Bundesbahnen (SBB) den deutschen ICE allerdings verschmähen, wird es weniger komfortabel – aus einem Umstieg werden dann drei, mit meinem Gepäck eine Plackerei. Die Aussicht darauf, in Kontrast zum fahrplangemäßen Rumhängen auf dem gleichen Sitz für weitere zweieinhalb Stunden, stresst mich so, dass ich mich nicht mehr auf meine Zeitungslektüre konzentrieren kann. Stattdessen checke ich abwechselnd Uhr- und Ankunftszeiten auf dem Handy. Selbst mit 15 Minuten Verspätung sollte doch allmählich mal Freiburg in Sicht kommen? Stattdessen bremst der Zug und bleibt stehen. Nach einer Minute zuckelt er wieder los, allerdings bleibt er im Bummel-Tempo. Und die Minuten verrinnen. Geht das nicht ein bisschen schneller? Als ob ich wieder Zeit gut machen würde können, packe ich hektisch meinen Lesestoff und die Wasserflasche in den Rucksack und mache mich fertig zum Aussteigen. Umsonst: In Freiburg haben wir schon 25 Minuten Verspätung. Und fahren mit 30 Minuten Fahrplanabweichung los in Richtung Schweiz. Das wird nichts mehr. Spannungsabfall, Resignation, ich packe Zeitung und Proviant wieder aus.

Kurz vor Basel dann die erwartete Durchsage: »Dieser Zug endet heute außerplanmäßig in Basel.«

Eine Nachfrage bei den Schweizer Bahnen ergibt – das vorzeitige Ende einer Bahnfahrt in Basel, die eigentlich bis tief in die Schweiz hätte gehen sollen, es ist alles andere als ein Einzelfall. Die SBB teilen mit, dass pro sie pro Tag vier bis fünf Züge aus Deutschland in Basel ersetzen müssen. Das heißt ein Viertel bis ein Drittel aller betroffenen Züge kommen nicht am Ziel an!

Bei meiner Zugfahrt nach Landquart habe ich zwei zusätzliche Umstiege, einmal elf Minuten zum Umsteigen, einmal sechs. Trotz der für deutsche Verhältnisse geringen Umsteigezeit und obwohl ich sehr viel Gepäck schleppen muss, bekomme ich meine Anschlusszüge. Wie fast immer in der Schweiz. Ob es wohl daran liegt, dass die Schweizer Bahnen vom Staat pro Einwohner zuletzt fünfmal mehr Geld bekamen als die Deutsche Bahn? Wie unterschiedlich die SBB und DB ausgestattet sind verrät jedenfalls eine Aussage des SBB-Sprechers: »Die SBB verfügt auf ihrem Netz über sogenannte Dispo-Züge, die in solchen Fällen den inländischen Takt sicherstellen.« In Basel stehen also mindestens fünf Züge herum, die jederzeit eingesetzt werden können, wenn ein Zug ausfällt. In Deutschland dagegen wurde im Juni gemeldet, dass nur 38 Prozent der Züge ohne Defekte fahren.