»Bei mir in der Nähe schließt ein traditionelles inhabergeführtes Bekleidungsgeschäft. Ich selbst war nie Kunde und bestelle Kleidung vorwiegend über das Internet. Ist es moralisch zu verantworten, dass ich die Rabatte eines Räumungsverkaufes ausnutze, obwohl ich durch mein Einkaufsverhalten zur Schließung des Geschäftes beigetragen habe?« Moritz L., Hamburg
Ihre Frage hat eine äußere und eine innere Seite. Man könnte auch sagen, eine Handlungs- und eine Persönlichkeitsseite. Rein äußerlich, wenn man die Handlung betrachtet, spricht wenig gegen den Gang zum Räumungsverkauf. Im Gegenteil: In der momentanen Lage ist es das Hauptinteresse des Bekleidungsgeschäfts, die Warenbestände möglichst vollständig zu den reduzierten Preisen loszuwerden. Und an dem betrüblichen Ereignis, dass ein weiteres Geschäft schließen muss, ändert es nichts mehr, ob Sie dort nun nach Schnäppchen suchen oder nicht. Daneben gibt es aber auch eine innere Seite, die Ihre Persönlichkeit betrifft. Offenbar sind Sie der Meinung, dass man außer Paketshops keine Ladengeschäfte in den Innenstädten mehr braucht, und lassen sich alles schicken. Dennoch haben Sie beim Ausverkaufsshopping ein ungutes Gefühl. Warum?
Ich glaube, es entspringt aus der Überlegung, welche Grundeinstellung hinter Ihrem Handeln steht. Wenn Sie grundsätzlich lieber online bestellen, würde sie lauten: Ich will im Internet einkaufen, weil das für mich praktischer ist; die Folgen für die Gesellschaft sind mir nicht so wichtig, oder ich begrüße den Fortschritt. Das ist in sich schlüssig und hat zumindest eine gewisse Logik für sich, auch wenn ich persönlich das Aussterben der Innenstädte für nicht so begrüßenswert erachte. Wenn Sie aber, sowie es günstiger ist, wieder im Laden einkaufen, kann Ihre Grundhaltung fast nur noch sein: Ich orientiere mein Handeln stets danach, wie es für mich den größten Gewinn abwirft.
Ihr Plan, nun beim Räumungsverkauf zuzuschlagen, ist deshalb zwar moralisch zu verantworten, konfrontiert Sie jedoch mit der unangenehmen Frage, ob Sie ein Mensch mit dieser nicht besonders schmeichelhaften Grundhaltung sein wollen. Aber solange Sie an dieser Stelle noch zögern, ist nicht alles verloren.
Illustration: Serge Bloch